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Ein Jugendzimmer aus den siebziger Jahren (nachgestellt ist im Industriemuseum in Lauf an der Pegnitz (Mittelfranken) während einer Sonderausstellung zu den 1970er Jahren

© Daniel Karmann/picture alliance / dpa

Wlli Achtens Roman i"Die wir liebten": In einem anderen Land

Familiengeschichte, Epochenroman, BRD noir: "Die wir liebten" von Willi Achten erzählt vom langen Leiden eines Brüderpaars in den siebziger Jahren.

Oft genug dient die alte Bundesrepublik Deutschland in der Literatur als Fluchtraum für Nostalgiker, wird der Zeit zwischen Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung Übersichtlichkeit, Ruhe und Glück angedichtet. Willi Achtens Roman „Die wir liebten“ (Piper, München 2020.379 S., 22 €.) dagegen erinnert daran, dass die Zeiten für viele kaum 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch hart waren.

Es ist 1971. Der Ich-Erzähler Edgar sitzt mit seinem Bruder Roman in der Dorfschule beim Silentium. Unerhörtes ist geschehen: Irgendjemand hat den Ziervögeln des Lehrers die Freiheit geschenkt. Dieser schleppt sich nun durch die Reihen, um den Delinquenten auszumachen. „Sein krankes Bein mit dem stumpfen Fuß zog er nach. Es mutete weich und fladdrig an. Niemand von uns hatte es je gesehen.“

Edgar räsoniert dann noch weiter über das seltsam leere Hosenbein, über dessen Ursache, Knochenfraß, der Zweite Weltkrieg, niemand weiß das so genau. Zu Hause bei ihm und Roman wohnt im erweiterten Familienverbund Leonhard, der Vetter der Großmutter, der zwar unter epileptischen Anfällen leidet, aber immerhin lebt: „Im Ersten Weltkrieg hatte man ihm am Kemmelberg in Westflandern in den Kopf geschossen und ihn im Lazarett hinter der Front abgelegt zum Sterben.“

Der Vater besitzt eine Bäckerei, die Mutter betreibt eine kleine Lottoannahmestelle. Doch bald kommt es zur Trennung – der Vater zieht in die Stadt, die Mutter betäubt sich mit Alkohol und Schmerzmitteln. Ihren Job kann sie nur noch mit großen Mühen ausführen. Die geliebte Großmutter stirbt.

Die Brüder versuchen aus dem Heim zu fliehen

Innerhalb dieser kollabierenden Familiensituation, zwischen körperlichen und emotionalen Verwundungen, kommt das Brüderpaar erstaunlich gut zurecht. Das Jugendamt sieht das aber anders.

Edgar und Roman werden in den „Gnadenhof“ verschafft, ein altes Schloss am Rande des Dorfes, das als Kinder- und Erziehungsheim dient. Romans Renitenz verschafft ihnen sofort einen Platz im Karzer, wo es nur eine Pritsche und einen Pinkeleimer gibt, zum Essen alte Brotscheiben: „Das Schwache aus sich weghämmern, ist eine Pflicht“ hat jemand in die Wand geritzt. Der Satz fasst die Erziehungsideen des Direktors gut zusammen.

Rasch erkennen Edgar und Roman, dass dieser Ort sie brechen wird. Sie bereiten ihre Flucht vor.

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Dass das Regime der Angst im Heim angesichts eines Todesfalles und der wachsenden Bedeutung der Reformpädagogik bröckelt, spielt ihnen dabei ebenso in die Karten wie eine geplante große Feier, für die alles und alle aufs Feinste herausgeputzt werden.

„Ab wann nimmt ein Leben einen anderen Weg? Welches Ereignis stellt die Weiche? Ab wo fährt ein Zug in die andere Richtung?“ Und: „Gibt es eine Welt neben der Welt?“ Diese Fragen stellt Willi Achten früh im Buch. Genau beantwortet werden sie nicht, beziehungsweise: Ihre Antworten sind sehr lange, sie reichen zurück in den Krieg und sind von den Strömungen der Zeit beeinflusst, aber auch von persönlichen Entscheidungen.

Das Buch erzählt auch eine Familiengeschichte

Was klar ist: Wenn der Zug in die „andere Richtung“ fuhr, hatte das in den siebziger Jahren deutlich drastischere Konsequenzen als heutzutage. Geschickt baut Achten jene Gegensätze auf, die für das damalige ländliche Westdeutschland wohl typisch waren. Hier die Jungen, die in leer stehende Fabrikgebäude einbrechen, ihre Feinde, ob gleichaltrig oder erwachsen, mit grausamen Streichen peinigen und die Feste so feiern, wie sie eben fallen. Sie hören Heavy Metal oder Bob Dylan, „Blood On The Tracks“ ist gerade erschienen.

Sie haben Freundinnen, lesen Bücher. Und dort Gleichaltrige, die hinter Mauern ein gänzlich anderes Leben leben müssen. Eines, das immer noch erzieherischen Unprinzipien der Nazizeit folgt. Teilweise stammt sogar das Personal noch von damals. Sie tragen eine Uniform, die letztendlich aus Lumpen besteht. Und wenn sie ihre Mädchen sehen wollen, müssen sie auf einen hohen Baum klettern, der nahe der Mauer steht. Würden sie erwischt, hätte das schreckliche Konsequenzen.

Der Schriftsteller Willi Achten, 1958 in Mönchengladbach geboren
Der Schriftsteller Willi Achten, 1958 in Mönchengladbach geboren

© Heike Lachmann/Piper Verlag

Man mag „Die wir liebten“ als einen Epochenroman betrachten, der aus einem dunklen Land und einer längst überwundenen Zeit berichtet. Das Buch erzählt aber auch eine Familiengeschichte. Im letzten Drittel trägt es Züge eines Krimis: Zunächst sind die Farben, mit denen der versierte Erzähler Achten hier malt, doch etwas knallig.

Man mag an die ehemaligen SS-Schergen, die Kinder quälen, an die abrasierten Haare, an den Jungen, der in einem Baum stirbt, und an geheime Dokumente aus der Kriegszeit nicht so recht glauben. Liest man sich dann ein zum Thema Gewalt in Kinder- und Ferienheimen der Nachkriegszeit und verfolgt konkrete Leidenswege, erscheint dieser Strang des Buches erschreckend realistisch.

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