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Kultur: Wladiwostok liegt gleich hinter Charlottenburg

In Berlin leben 30 000 Einwanderer aus der früheren Sowjetunion. Sie essen am Ku’damm und feiern in Mitte. Ein Rundgang

Nein, Semjon Wassiljewitsch kann dem Vergleich partout nichts abgewinnen. „Njet“, sagt er, und es klingt fast ein bisschen empört: Die Transsibirische Eisenbahn und die BVG, das seien nun wirklich zwei verschiedene Dinge. Dann muss er aussteigen, und er wirkt ganz froh, dieses Gespräch nicht fortsetzen zu müssen. Zugegeben: Poelchaustraße, Springpfuhl, Friedrichsfelde Ost, das hat vielleicht nicht den gleichen Nachhall wie: Jekaterinburg, Nowosibirsk, Ulan Ude. Trotzdem kann man auf dem Vergleich beharren: Wer die Weite Russlands erfahren will, der steigt in Moskau in die „Transsibirische“ ein und eine Woche später in Wladiwostok wieder aus. Wer die russische Seele Berlins entdecken will – der fährt mit der S-Bahn von Charlottenburg nach Marzahn.

Dabei trifft man Menschen wie Semjon Wassiljewitsch, der draußen auf dem Bahnsteig immer noch entrüstet den Kopf schüttelt: Transsibirische S-Bahn, was für ein Unsinn. Mit manchen Dingen spaßt man nicht, und schon gar nicht mit den Errungenschaften der Sowjetunion, da denkt der 61-Jährige aus Swerdlowsk wie viele russischsprachige Migranten seiner Generation. Eben deshalb haben sie ihre Heimat verlassen: Weil dort nichts mehr ist wie früher, weil das neue Russland schneller tickt, weil das Alte nichts mehr gilt. Man trifft aber auch Menschen wie den 22-jährigen Nikolai, der das ganz anders sieht: „Das Problem an Russland ist doch eher, dass die Sowjetunion nie so ganz verschwunden ist. Es gibt noch immer den gleichen aufgeblasenen Nationalismus, auch wenn jetzt alles anders heißt.“ Seit acht Jahren lebt Nikolai in Berlin, und dass er hier groß geworden ist, merkt man nicht allein an seinem akzentfreien Deutsch. Auf den transsibirischen S-Bahn-Vergleich lässt er sich mit fein justierter Ironie ein. „Ich würde sagen, wir passieren gerade den Ural“, sagt er lächelnd, als unser Zug kurz vorm Anhalter Bahnhof unter der Erde verschwindet.

Wenn der Berliner S-Bahn-Plan als Projektionsfläche für die Geografie der russischen Seele taugen soll, dann müsste ganz im Westen etwas wie Moskau liegen: das neue, das laute und glitzernde, das obszön reiche Moskau. Und tatsächlich: Rund um den Ku’damm wird heute wieder fast so viel russisch gesprochen wie in den Zwanzigerjahren, als die hohe Quote der hier ansässigen Bürgerkriegsflüchtlinge dem Stadtteil den Spitznamen „Charlottengrad“ eintrug. Heute tummeln sich hier nicht mehr die „weißen“, sondern die „neuen“ Russen: Geschäftsleute und Privatisierungsgewinnler aus Moskau und St. Petersburg, so genannte „bisnjesmenij“, die zum Luxus-Shopping nach Berlin fliegen. Man trifft sie vorzugsweise in der Pelzabteilung des KaDeWe, und wenn man sie anspricht, runzeln sie hinter monströsen Sonnenbrillen die Stirn und knurren „No kohmjint“ – „Kein Kommentar“.

Luxus-Shopping in „Charlottengrad“

Aber auch ständig hier lebende Russen findet man in Ku’damm-Nähe – wobei „Russen“ im Berliner Sprachgebrauch deutschstämmige Spätaussiedler, jüdische Exilanten, Ukrainer, Kasachen, Weißrussen, Georgier und einiges mehr bezeichnet. Über 30 000 Migranten aus GUS-Staaten sind in Berlin offiziell gemeldet, Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John geht jedoch von einer tatsächlichen Einwandererzahl von 200 000 aus. Manche glauben sogar, dass sich der Russenquotient wieder seinem Höchststand aus den Zwanzigerjahren nähert – damals lag er bei über 300 000.

„Wenn ich auf jene Jahre des Exils zurückschaue“, schrieb Vladimir Nabokov 1951, „sehe ich mich und Tausende anderer Russen ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Leben unter völlig belanglosen Fremden führen, in deren mehr oder minder unwirklichen Städten wir, die Emigranten, zufällig unser Domizil genommen hatten“. In ähnlicher kultureller Selbstgenügsamkeit leben auch heute viele der Charlottenburger Russen. Am deutlichsten lässt sich das im „Astoria“ erleben, einem Restaurant–gewordenen Goldrausch am westlichen Ende des Ku’damms: Goldene Kandelaber zieren golddurchwebte Tapeten, goldenes Geschmeide prangt an heillos überschminkten Damen, goldene Armbanduhren an bärtigen Kavalieren. Bis in die Nacht spielen Live-Bands russische Versionen westlicher Klassiker, und das Astoria verwandelt sich in einen skurrilen Ballsaal. Des Russischen unkundige Gäste sind willkommen, aber nicht unbedingt vorgesehen: Erst nach einigen Minuten gelingt es dem Kellner, eine deutsche Speisekarte aufzutreiben. Darauf finden sich Köstlichkeiten wie Borschtsch: „Rote-Rüben Suppe mit wohlriechenden Brötchen, der Gogols Hauptfiguren des Romans in Vorwerr bei Dikanka gekostet haben.“ Wer ins Astoria kommt, will vergessen, dass Russland weit weg ist und dass Russland nicht mehr Russland ist.

Borschtsch unter Goldkandelabern

„Die Atmosphäre entspricht exakt einem Moskauer Restaurant der Achtzigerjahre“, sagt Geschäftsführer Boris Veitsman. „Genau das suchen unsere Gäste.“ Während es am Ku’damm um die Überwindung von Raum und Zeit geht, hat sich rund um die Torstraße in Mitte ein Biotop russischer Kultur entwickelt, das sich nahtlos ins Hier und Jetzt der Berliner Clubszene einfügt. Dessen Keimzelle ist nach wie vor die „Russendisko“: Zweimal im Monat legt der Schriftsteller Wladimir Kaminer russische Popmusik auf und lockt mit trashiger Exotik Hunderte von Clubgängern ins „Kaffee Burger“. Längst ist Kaminers Idee zum Markenartikel avanciert: Dem Soundtrack zum Club folgte der Roman zur CD, dem Theaterstück zum Buch folgten Lesungen in ganz Deutschland. Inzwischen hat sich die Szene allerdings diversifiziert, und manche der russischen Musiker, die regelmäßig im „Mudd Club“, im „Put-In“ und im „Club Tarakan“ auftreten, können das Schlagwort „Russendisko“ kaum noch hören. „Damit haben wir gar nichts zu tun", sagt etwa Andrej, Pianist der Berliner Band „Wan Home Food“. „Es gibt russische Einflüsse in unserer Musik, einfach weil die meisten von uns in der Sowjetunion geboren sind. Aber als russische Band verstehen wir uns deshalb noch lange nicht.“

Nicht nur das großstädtische Russland lebt in Berlin, sondern auch die Provinz. Ganz im Osten der transsibirischen S-Bahn-Trasse liegt Marzahn-Hellersdorf, wo mehr als 25 000 deutschstämmige Spätaussiedler leben. Dass diese sich vorwiegend in der quasisowjetischen Betonkulisse der östlichen Plattenbauregionen ansiedeln, liegt nicht etwa daran, dass sie sich hier instinktiv wie zu Hause fühlen – die meisten kommen aus ländlichen Regionen. Vielmehr locken die billigen Mieten und der hohe Leerstand, der es Neuankömmlingen ermöglicht, sich in unmittelbarer Nähe von Bekannten anzusiedeln, die bereits länger im Bezirk leben. Ganze russische Dörfer haben sich hier neu formiert – in vertikaler Richtung. „Früher wohnte meine Tante am anderen Ende der Straße“, sagt der siebenjährige Iwan. „Jetzt besuchen wir sie mit dem Fahrstuhl.“ Manchmal stolpert man auf Klingelschildern und Briefkästen über Namen, die irgendwo auf dem Weg ins Kyrillische und zurück Federn gelassen haben: „Grinwald“, „Schnejder“, „Jungling“.

Endstation: Bahnhof Lichtenberg. Von hier aus ist Russland nur knapp 30 Stunden weit entfernt: So lange braucht der tägliche Moskva-Express. Und wer will, kann dann mit der Transsibirischen Eisenbahn weiterfahren bis Wladiwostok.

Informationen über russische Veranstaltungen in Berlin finden sich unter www.007-berlin.de . Die Adressen der im Text erwähnten Etablissements: Restaurant „Astoria“, Kurfürstendamm 129a, Tel: 892 50 38 (in den Sommermonaten nur Fr und Sa geöffnet). Kaffee Burger, Torstraße 60 (nächste „Russendisko“ Sa, 9. August, 22 Uhr). Club Tarakan, Linienstraße 154a. Mudd Club, Große Hamburger Straße 17. Club Put-In, Torstraße 69 .

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