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War 2018 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Matthias Senkel, 44.

© Dietze

„Winkel der Welt“ von Matthias Senkel: Eine Insel mit vielen Verzweigungen

Matthias Senkel veröffentlicht mit „Winkel der Welt“ fünfzehn gewitzte und begnadet rhizomatische Erzählungen.

Alles ist detailliert beschrieben, Berge und Höhenkämme, Untiefen und Winkel, Flora, Fauna, Bevölkerung. Die Namen klingen realistisch, so als gäbe es das wirklich: die Insel Warenz beispielsweise, die ein „wendisches Inselvölkchen“ beherbergt haben soll, oder Sparrman Island, im Südpolarmeer. James Cook soll sie 1773 durch die Linse seines Fernrohrs ins Visier genommen haben. Die XIII. Antarktisexpedition der Sowjetunion habe das Kartenmaterial verfeinert, erfahren wir. Und schließlich strandete dort eine polnische Wissenschaftlerin mit armenischen Vorfahren, in der Hoffnung, sich von einem „amourösen Fehlgriff“ zu erholen. Dort – also wo? Man wäre wohl rettungslos verloren, ließe man sich mit den topografischen Angaben dieses Buches auf eine Weltreise ein. Matthias Senkels literarische Topografie ist detailfreudig, aber ohne Referenz, zumindest nicht in der raumzeitlichen Dimension realer Orte.

Selbst im Geiste kann man sich in seinen Büchern verlaufen. Das ist ihr spezieller Reiz. Besonders gilt das für seine Romane, für den Debütroman „Frühe Vögel“, eine fingierte Geschichte der Aeronautik, und für den fabulös genialen Roman „Dunkle Zahlen“, eine abgedrehte Mischung aus Mathematik und Poesie. Der 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse und den Deutschen Buchpreis nominierte Roman inszeniert eine Programmierer-Spartakiade in Moskau Mitte der 1980er Jahre und steckt voller Fallstricke, Zeitschleifen und Wurmlöcher. Als Epiker ist er wie der Büchner-Preisträger Clemens Setz ein begnadeter Rhizomatiker.

„Winkel der Welt“ versammelt fünfzehn, zum Teil bereits veröffentlichte Erzählungen aus zwölf Jahren, darunter auch „Aufzeichnungen aus der Kuranstalt“ und „Warenz“, die er bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur vortrug. Der 1977 im thüringischen Greiz geborene Schriftsteller tüftelt gerne Konstellationen aus, die dazu verleiten, Verifikationen durchzuführen. Die Suchmaschine ist in gewisser Weise ein elementarer Bestandteil seiner Texte, mitsamt der Dynamik sich permanent verändernder Wissensbestände. Wer seine Angaben googelt, kann auf die Idee kommen, es mit einem Karl Valentin 4.0 zu tun zu haben, der seine Gags nach den häufigsten Suchanfragen konstruiert. Etwa, wenn man den Namen Talea Aub eingibt und erfährt, dass es eine lila Schnittpflanze gibt, die auf Italienisch „Aubrieta“ heißt, oder wenn bei der Suche nach Nora Vermehren, einer Figur aus der gleichen Geschichte, „Nora vermisst“ angeboten wird. Vermutlich ist das purer Zufall. Aber auch dann ist es eine kluge Strategie: dem Zufall eine Stelle einzuräumen, an der er mitwirkt, während sich eine Geschichte im Lauf der Zeit in den Gehirnen der Leser*innen fortschreibt.

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Wenn ein russischer Sprachwissenschaftler namens Aleksej Timofejewitsch Koschjelkin in der literarisch anspielungsreichen Erzählung „K“ nach einer weltweit verständlichen Plansprache sucht und dafür mitten im Zweiten Weltkrieg auf einem Eiland forscht, wo „Waka-Jawakanisch“ gesprochen wird, dann klingelt vielleicht bei dem einen oder der anderen Shakiras Song „Waka Waka“ oder Frank Zappas viertes Soloalbum „Waka/Jawaka“ von 1972. Gawriil Teterewkin, der erfundene Dichter aus „Dunkle Zahlen“, hat in der Erzählung „Rote Heringe“ einen Auftritt. Auf einem Kolloquium wird sein Werk erforscht. Dabei geht es auch um „das Inselhafte“.

Eine Poetik der Nebenwege

Die Insel ist der große Topos, der in „Winkel der Welt“ im kleinen Format umgewälzt wird. Abenteuerlust und Sicherheitsbedürfnis gehen in Insel-Fantasien Hand in Hand. Als Traumorte konzipiert, sind sie in der Realität oft karstig und unwirtlich. Die Atlantikinsel Tristan da Cunha, der Raoul Schrott vor Jahren einen umfangreichen Roman gewidmet hat, ist bei Senkel nur der kleine „Fliegenschiss“, als die sie sprichwörtlich gilt. „Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch“, schreibt Judith Schalansky, der Insel-Sehnsucht misstrauend, in ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“.

Matthias Senkel verfolgt eine Poetik der Nebenwege, der Abirrung, Verzweigung und Verwirrung. Die Insel ist bei ihm ein Spielfeld. Europäische Kriege und koloniale Machtansprüche schrumpfen zu Versuchsanordnungen zusammen, die sich mit den Mitteln der Literatur bearbeiten lassen. „Wenn immer wieder neue Gegenstände weitere Verzweigungen auslösen – wie soll der Roman denn je aufhören?“, heißt es einmal.

Anders als Reinhard Lettau, an dessen Komik zwischen Feldherren-Attitüde und Versteckspiel manches erinnert, ist Matthias Senkel kein genuiner Meister der Kurzstrecke. Der Witz seiner Prosa funktioniert besser, wenn er episch unterfüttert wird. Dann führen die Irrwege zurück in den Kosmos des Buches.

Die Genre-Strategien formen einen imaginären Ort, an dem Absurdität und Apokalyptik genügend Raum haben, um sich zu entfalten. Die Erzählungen sind eher wie Skizzen. Einzelne Gags zünden, manche Szenen sind von geradezu eleganter Schnoddrigkeit. Doch der ästhetische Mehrwert verpufft allzu oft in der Geste literarischer Gewitztheit.

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