zum Hauptinhalt
308525_0_39a8e120.jpg

© Abb.: NPG/ IV

William Shakespeare: Das Geheimnis des Genies

Shakespeare war nicht Shakespeare. Der Kölner Forscher Kurt Kreiler will das endlich beweisen.

Es heißt, seit Gott hat keiner mehr erschaffen als William Shakespeare. Wir haben 36 Dramen, zwei Epen und 154 Sonette, die seit 1593 zunächst unter dem Verfassernamen „Shake-Speare“ oder auch „Shakespeare“ gedruckt und in meist bearbeiteten Fassungen damals in Londoner Theatern gespielt wurden. Aber wer hat diese Texte tatsächlich geschrieben? Die Frage nach der Autorenschaft Shakespeares ist neben der von Einstein und anderen Physikern gesuchten Weltformel für das Universum eines der letzten großen Rätsel der Menschheitsgeschichte.

Es geht um den Schöpfergeist jener Stücke und Poeme, die unzählige Bezüge, Anspielungen, Anverwandlungen aus der antiken und mittelalterlichen Mythologie, aus der Bibel, aus griechischen, lateinischen, französischen, italienischen Quellen enthalten und einen Kosmos bilden, der vom König bis zum Bettler und von Britannien bis Kleinasien reicht: gespickt mit philosophischem, politischem, (kunst)historischem, juristischem, religiösem, naturwissenschaftlichem Wissen. Und das in einer Einfallsfülle und mit einem Wortschatz, wie ihn die englische und die gesamte Weltliteratur bis heute nur in diesem Fall erfahren hat.

Der in Stratford-upon -Avon 1564 geborene und dort 1616 gestorbene William Shakspere (ohne „e“ in der Mitte und ohne zweites „a“) war der Sohn eines analphabetischen Handschumachers und hat nie mehr als ein paar Jahre die Dorfschule besucht; später schlug er sich in Schauspielgruppen als Kleindarsteller durch, kam auf nie ganz geklärte Weise zu Vermögen und wurde Mitbesitzer von Theatern. Er war, das immerhin weiß man aus Dokumenten, ein pfennigfuchs- ender Kaufmann und Geldverleiher. Obwohl er noch in seinem Testament eine pingelige Krämerseele bewies (nur „das zweitbeste Bett“ für die Ehefrau), wird darin mit keinem Wort der Besitz von Büchern, gar von eigenen Werken und irgendwelchen Tantiemen erwähnt.

Angesichts des Erfolgs der so genannten Shakespeare-Stücke waren diese schon damals ein Vermögen wert. Und während der zu jener Zeit bekannteste Shakespeare-Darsteller, Richard Burbage, 1619 wie ein Volksheld begraben wurde, scherte sich um das Ableben jenes Mr. Shaksper, von dessen Hand einzig ein paar Versionen seines Namens in ungelenken Krakelunterschriften existieren, kaum ein Hund. Die berühmte Folio-Ausgabe der Werke „William Shakespeares“ erschien, von wem auch immer bezahlt, in London erst 1623, aber keine Zeile daraus ist von Hand überliefert.

Jetzt, nach hunderttausend Büchern über den genialen Big Will, verspricht eine neue Studie des Rätsels Lösung. Also eine Sensation. Und dies, obwohl der Titelheld von Kurt Kreilers „Der Mann, der Shakespeare erfand“ (Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009, 29, 80 €) keineswegs mehr ein Unbekannter ist. Haben doch schon viele berühmte Geister, von Mark Twain bis Charlie Chaplin, von Sigmund Freud bis Orson Welles daran gezweifelt, dass „ein Landlümmel aus dem Drecksnest Stratford“, wie der Großkritiker Alfred Kerr einmal schrieb, wirklich mit jenem universellen Dichterkönig identisch sein sollte. Und seit fast 100 Jahren bereits gilt Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford, als Favorit für alle, die das wahre Genie, den Kopf hinter der weltberühmten Maske entdecken wollen.

Dieser Prozess gegen das noch immer herrschende „Kein Zweifel: Shakespeare ist Shakespeare“-Bild beruhte freilich immer nur auf Indizien. Nun aber annonciert der Insel-Verlag die knapp 600-seitige De-Vere-Biographie des bisher weitgehend unbekannten Kölner Literaturwissenschaftlers und Übersetzers Kurt Kreiler als „bahnbrechende Erkenntnis“. Bisher habe in der Frage nach Shakespeares Identität „der schlüssige Nachweis“ gefehlt, und „die Welt wurde systematisch betrogen“. Gleich im Vorwort meint dann der hochgebildet und auch nicht frei von Einbildung auftretende 59-jährige Autor: Weil sich „die Ahnungslosigkeit der Kenner“ und die „Kenntnis der Ahnungslosen“ im Shakespeare-Fall „die Wage halten, darf ich hoffen, den Erwartungen aller gerecht zu werden“.

Statt Indizien würde man nach so viel Verheißungen , wenn schon kein posthumes Geständnis, so doch gleichsam die Tatwaffe erwarten; mindestens einen bisher übersehenen Schlüsseltext, gar ein neu entdecktes Manuskript. Das gibt es freilich nicht. Aber Kurt Kreiler hat so profund wie noch keiner vor ihm das komplizierte Mosaik zusammengesetzt, das Edward de Veres Autorenschaft zeigen, ja: beweisen könnte. Obschon Kreilers Darstellung manchmal ein wenig mäandert und mit Fleiß auch Schlösser ausbaut in Türen, die längst offen stehen, glänzt sein fußnotengespicktes Buch durch kombinatorischen Scharfsinn.

Im Umfeld des mit Fremdsprachenkenntnissen, literarischer und künstlerischer Bildung prunkenden Hofs von Queen Elisabeth I., mit dem verglichen die heutigen Windsors nur die geistige Unterschicht repräsentieren, war Edward de Vere (1550 - 1604) eine der brillantesten Erscheinungen. Unterlegt mit eigenen Übersetzungen von de Veres Gedichten und einer frühen Novelle des Earls weist Kreiler das poetische Talent seines „Mannes, der Shakespeare erfand“ auch für orthodoxe Altshakespeare-Verteidiger unbestreitbar nach.

Unbestritten ist auch, dass ein Hocharistokrat im elisabethanischen Reich zwar Gedichte und Dramen schreiben und sie auch in Liebhaberaufführungen bei Hofe vorstellen durfte. Doch war die Drucklegung schriftstellerischer Werke und ihre öffentliche Kommerzialisierung dem Adel nicht gestattet. Ein Autor, der von seiner Arbeit lebte, konnte damals nur ein Bürgerlicher sein wie etwa die Dramatiker Christopher Marlowe, John Webster oder der Philosoph Francis Bacon, die als Shakespeare-Kandidaten jedoch aus unterschiedlichen Gründen mit Sicherheit ausscheiden. De Vere aber, wenn er denn über seine offenbar brillanten Anfänge als junger Mann weiter schreiben und gar publizieren wollte, musste es unter fremdem Namen tun.

Der unbedeutende, für den theaterinteressierten Earl womöglich aber nicht unbekannte Schauspieler Shakspere hätte darum sein Strohmann sein können. Das aber ist auch in Kreilers umfänglicher Studie durch keinen Vertrag oder ein belegbares (Gegen-)Geschäft direkt zu beweisen. Die Argumentation läuft fast nur über zahlreiche logische, sachliche, philologische Ausschlussverfahren. So bringt die besonders eindrücklich nachgewiesene Frankreich- und Italienreise de Veres 1575/76 hier neue Indizien: neben vielem anderen beispielsweise ein Bildnis an der Rialto-Brücke oder eine entlegene Anekdote der Gonzaga-Herrscher in Mantua, ohne deren Kenntnis bestimmte Stellen im „Kaufmann von Venedig“ oder „Hamlet“ nicht denkbar wären.

Mister Shakspere aus Stratford, der wohl kaum ein Wort Italienisch oder Französisch konnte und der über London und Englands Süden offenbar nie hinausgekommen ist, er scheidet da mit einiger Sicherheit aus. Was Kreiler, apropos „Kaufmann“ und die Rolle des Shylock, übrigens nicht erwähnt bei de Veres Aufenthalt in Venedig, ist das große Ghetto der Lagunenstadt. Man durfte sich ja immer schon fragen, wie ein englischer Autor so eindringlich über Juden und christlichen Antisemitismus schreiben konnte zu einer Zeit, da es auf der Insel kaum oder gar keine Juden gab.

Dagegen weiß Kreiler beispielsweise auf den Tag genau, wann de Vere seine noch minderjährige Frau geschwängert habe, und nennt auf Seite 111 einen Historiker als Quelle, den er auf Seite 545 selber als höchst dubios bezeichnet („Er diskreditiert, denunziert und fälscht ohne Not.“). Das Feuerwerk der angeblichen Beweise schrumpft nicht nur hier bisweilen zum Knallfrosch der Spekulation. Und dass die Frage, warum Shakespeares Endspiel „Der Sturm“, der erst nach de Veres Tod erschien, durchaus vorher entstanden sein konnte, hatte unter anderem bereits Walter Klier 1994 in seinem brillanten De-Vere-Plädoyer „Das Shakespeare-Komplott“ erläutert. Ein Buch, das Kurt Kreiler nur kurz vor Schluss mit vier Zeilen lobend erwähnt.

Merkwürdig auch, dass ein geradezu schlagendes Indiz für Kreiler kaum eine Seite wert ist: In der berühmten Folger Library in Washington wird eine englische Bibel aus Edward de Veres persönlichem Besitz aufbewahrt – mit über 200 wohl von seiner Hand stammenden Anstreichungen und Anmerkungen, die sich auf Textstellen beziehen, die in Shakespeares 36 Stücken zitiert oder variiert werden. Freilich hatte dies der amerikanische Literaturwissenschaftler Roger A. Stritmatter schon 1992 herausgefunden.

Ungeachtet solch kleiner Einschränkungen, wird die bisher herrschende, den „Sweet Swan of Avon“ als nationales Heiligtum verteidigende britische Shakespeare-Forschung, eine kultische Industrie, an Kurt Kreilers großer Studie in Zukunft kaum mehr vorbeikommen. Denn in William Shakespeare stecken offenbar der gewollte „Will I am“ und jener Speer der Dichtergöttin Athene, der bei de Vere zum Sinnbild des „shake-speare“, des Speerschwingers, werden sollte. Die letzte Frage indes bleibt: Wie konnte die Mytifikation eines schon zu Lebzeiten erkannten Weltgenies trotz Abschreibern, Helfern, Zuträgern, Mitwissern ein derart perfekt gehütetes Geheimnis bleiben?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false