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Das derangierte Paar, gespielt von Erica Rivas und Diego Gentile.

© prokino

"Wild Tales": Kino-Hit aus Argentinien: Die Kunst der Katharsis

In Zeiten von "Charlie Hebdo" fällt es schwer, sich über eine Kinokomödie zu freuen, in der Anschläge verübt und Massenmorde geplant werden. Sollte man den Film aus Pietätsgründen verhindern? Und die Kritik verstecken? Nein, im Gegenteil.

An dieser Stelle sollte eigentlich eine begeisterte Besprechung der argentinischen Filmkomödie „Wild Tales“ stehen. In seiner Heimat bereits der erfolgreichste Film aller Zeiten, in Cannes gefeiert (wenn auch nicht prämiert): ein schreiend komisches, herrlich die Kunst der kalkulierten Eskalation kultivierendes Stück Kino.

Aber nach dem mörderischen Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ fällt es schwer, einen Film zu preisen, in dem eine der Hauptfiguren einen Anschlag auf eine öffentliche Einrichtung verübt und damit zum Helden wird. Und sich ein anderer mittels perfekt geplantem Massenmord auf einen Schlag an all seinen Kritikern rächt. Und in dem überhaupt alle sechs Episoden durch das Motiv des gewalttätigigen Wutausbruchs miteinander verbunden sind. Womit sie einem nicht Tränen des Mitgefühls, sondern des Lachens entlocken.

Eine Komödie aus Pietätsgründen verstecken?

Wohin nun mit der Freude über diesen filmisch wahr gewordenen Rachetraum, wenn einem der Mord an Frankreichs besten Karikaturisten jedes Lachen aus dem Gesicht schlägt? Verstecken, verhindern, den Film aus Pietätsgründen schleunigst aus den Kinos entfernen, wie es etwa nach Nine-Eleven mit einigen Katastrophenfilmen geschah?

Nein, ganz im Gegenteil. Zum einen wird die Wildheit der „Wild Tales“ – die wilden Tiere im Vorspann deuten den schmalen Grat zwischen Natur und Kultur bereits grazil an – durchgehend von vertrauten, nachvollziehbaren Alltagsproblemen entfesselt: Arrogante Luxuskarrenraser, korrupte Politiker, ungerechte Parkverbotsknöllchen, Fahrerflucht und ein untreuer Fast-Ehemann sind nur einige Beispiele. Die Rache entlädt sich im Flugzeug, in einem Schnellimbiss, auf der Landstraße und beim Hochzeitsfest, als Waffen werden bevorzugt die eigenen Hände eingesetzt, ab und an auch Gift, Messer oder Sprengsätze. Gefühlsverletzungen durch Déjà-vu-Situationen sind weitgehend ausgeschlossen.

"Wild Tales" plädiert für einen offenen Umgang mit der eigenen Aggression

Zum anderen, und das ist entscheidend, weil „Wild Tales“ kein gewaltverherrlichender Film ist. Eher einer, der – wenn man denn der künstlerischen Fiktion aus aktuellem Anlass schon die Fesseln des realitätsverpflichteten ethischen Ratschlags anlegen muss – für einen offeneren, bejahenderen Umgang mit der eigenen Aggressivität plädiert. Wie in der letzten – und schönsten – Geschichte, die von einer ungewöhnlichen Hochzeitsfeier erzählt, in der romantische Gefühle erst nach einem gepflegten Wutausbruch wieder möglich werden, ruft auch der ganze Film eben nicht zur Gewalt auf, sondern beugt ihren realen Auswüchsen eher im besten aristotelischen Kunstsinn kathartisch vor.

Die Trennung von Kunst und Realität ist hier doppelt entscheidend: Sie erlaubt es, sich fröhlich fiktionalen Rachefantasien hinzugeben; Menschenleben werden dabei nicht gefährdet. Bei einer der vielen Solidaritätskundgeben jetzt nach dem Anschlag in Frankreich war auf einem der vielen Plakate zu lesen: „On n’éteint pas l’humour en tirant dessus“ („Man löscht den Humor nicht aus, indem man auf ihn schießt“). Das sollte auch den „Wild Tales“ zugutekommen. Die Kunst der Rache muss vor der Rache an der Kunst geschützt werden.

Cinemaxx, Delphi, International, Kulturbrauerei, Yorck; OmU: Babylon Kreuzberg, Hackesche Höfe, International und Odeon

Julia Dettke

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