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Der Schriftsteller und Berufsoffizier Xavier de Maistre, 1763 - 1852.

© Wikipedia

Wie spannend es zuhause sein kann: Xavier de Maistres "Reise durch mein Zimmer"

In den eigenen vier Wänden lassen sich viele Entdeckungen machen: Xavier de Maistres aufregende „Reise durch mein Zimmer“ von 1794.

So ist das dieser Tage, da das Reisen in andere Länder nicht mehr möglich ist, überhaupt die Bewegungsfreiheit auf ein Minimum eingeschränkt wird: Man muss anders reisen, durch die eigene Wohnung, die eigenen Zimmer. So wie es der französische Schriftsteller Xavier de Maistre getan hat, nachdem er 1790 nach einem Duell zu sechs Wochen Hausarrest in seiner kleinen Turiner Dachgeschosswohnung verurteilt worden war. „Voyage autour de ma chambre“ heißt das Buch, das de Maistre daraufhin schrieb, „Reise um mein Zimmer“.

Es hat 42 kurze Kapitel, so viele wie die Tage, die er unter Arrest stand, und wurde von dem 1763 in Chambéry in Savoyen geborenen Offizier des damaligen Königreichs Sardinien deshalb verfasst, weil er so viele „interessante Beobachtungen“ auf seiner Reise gemacht hatte, ein „ständiges Vergnügen“ dabei empfand und dieses mit so vielen Menschen wie möglich teilen wollte: „Mein Herz empfindet eine unaussprechliche Befriedigung, wenn ich an die zahllosen Unglücklichen denke, denen ich ein sicheres Hilfsmittel gegen die Langeweile und eine Linderung der Leiden, die sie erdulden, anbiete."

„Die Gemälde Raffaels werden unsere Nachwelt genauso bezaubern"

Was also unternimmt de Maistre, der es in seinem Buch ganz wunderbar versteht, Witz und Ironie zu verbinden, nichtiges Geplauder und Tiefsinn? Er richtet sich ein und reist von seinem Sessel, der vor dem Kamin steht, zu seinem Bett, vom Bett zum Schreibtisch und wieder zurück.

Er lässt seiner Phantasie freien Lauf, betrachtet die Dinge, „schreitet von Entdeckung zu Entdeckung“; Entdeckungen, die er auch an den voller Stichen und Gemälden hängenden Wänden seines Zimmers macht und in seiner Bibliothek.

Manchmal ist de Maistre etwas umständlich, da erklärt er in einigen Kapiteln, dass bei ihm Körper und Seele in Widerstreit liegen, Schwerkraft und Metaphysik sich nicht immer vertragen; manchmal sind ihm sein Diener Joannetti und sein Hund Rosine wichtige Hilfen. So allein ist er nämlich nicht, treueste Begleiter braucht auch er. Und dann wieder widmet er sich seiner Bibliothek, singt ein hohes Lied auf „ein Leben in der Nachfolge Homers, Miltons, Vergils, Ossians etc.“, besonders Miltons Satan hat es ihm angetan, gesteht er. Oder er führt imaginäre Gespräche mit großen Medizinern der vergangenen Jahrhunderte.

Oder er schaut seine Bilder an: einen Stich mit einer Szene aus Goethes „Werther“, einen mit Ugolino und seinen toten Söhnen. Oder Porträt-Reproduktionen von Raffael und dessen Geliebten La Fornarina. Überhaupt Raffael: „Die Gemälde Raffaels werden unsere Nachwelt genauso bezaubern, wie sie unsere Vorfahren begeistert haben.“

Vorläufer von Hysmans, Wilde und Proust

Man meint mit de Maistre, der seinerseits von Lawrence Sterne inspiriert wurde (einmal erwähnt er die „Tristram-Shandy“- Figur Onkel Tabie), auch einen Blick in die Literatur von dessen Nachwelt blicken zu zu können. Joris-Karl Hysmans „Gegen-den-Strich“-Held Des Esseintes ist ein Bruder im Geiste, auch Oscar Wildes „Dorian Gray“ kommt ins Bild, als De Maistre sein ultimatives Gemälde beschreibt, das er „über alle Gemälde der italienischen Schule“ stellt: einen Spiegel.

Die Szenen im Bett erinnern an Marcel Proust, wenn der Turiner Zimmerreisende morgens in einem Zustand zwischen Schlafen und Aufwachen ist und sich an den Geräuschen seines „herumwirtschaftenden“ Dieners ergötzt: „Man ist wach genug, um zu erkennen, dass man es nicht ganz ist, und um verwirrt zu errechnen, dass die Stunde der Geschäfte und Sorgen noch in der Sanduhr der Zeit ruht.“

Tatsächlich war Xavier de Maistre, und auch das könnte in unsere Coronavirus-geplagte Gegenwart passen, mit seinem Buch ein Trendsetter in einer Zeit, Ende des 18. Jahrhunderts, in der viele Expeditionsreisende die Welt erforscht und davon in Büchern Kunde gegeben hatten. Zimmerreisen wurden plötzlich en vogue, Reisen in die weite Welt der eigenen, nahen Umgebung.

In den Innenraum der Welt ging es gewissermaßen, in die Innenwelt der Außenwelt. Man denke an Sophie von La Roches gleich zweibändiges, 850 Seiten dickes Werk „Mein Schreibetisch“, das 1799 veröffentlicht wurde und in dem nicht zuletzt Bücher und Bilder reichlich Anschauungsmaterial für Gedankenreisen liefern.

De Maistre schrieb auch „Nächtliche Expedition um mein Zimmer“.

Auch Xavier de Maistre, dessen „Reise um mein Zimmer“ von seinem älteren Bruder, dem Staatsphilosophen Joseph de Maistre 1794 veröffentlicht wurde, verfasste 1799 wegen des Erfolgs seines Büchleins ein weiteres Zimmerreisebuch, die „Nächtliche Expedition um mein Zimmer“. Das sollte jedoch erst 1825 erscheinen. De Maistre war da viel in der Welt herumgekommen, hatte an Feldzügen im Kaukasus und den Befreiungskriegen gegen Napoleon teilgenommen und St. Petersburg auf Vermittlung seines Bruders zur zweiten Heimat gemacht.

Die „nächtliche Expedition“ ist vielleicht nicht ganz so aufregend wie die erste Reise. De Maistre steht auf einer Leiter - gefährlich genug! -, wiederum in einer Turiner Dachgeschosswohnung, nachdem die alte „von einer Bombe durchlöchert worden war“, und schaut aus dem Fenster hoch oben, um „den Wundern des Firmaments den geschuldeten Tribut zu zollen".

Natürlich sieht er viel anderes, auf dem Balkon eine Etage tiefer zum Beispiel. Es gibt gar eine Romanze, selbst eine Fledermausattacke muss er überstehen. Am meisten los jedoch ist, wenn „die Zeit ihre Stimme erhebt und sich in meiner Seele hören lässt.“ De Maistres Bücher wirken heute noch frisch, aktuell sowieso. Weshalb sie häufig in neuen Übersetzungen veröffentlicht werden, zuletzt 2010 bei Aufbau, 2005 bei Gerd Haffmans bei Zweitausendeins oder 1994 in einem Buch des Schriftstellers Thorsten Becker, „Mitte“. Das Paradies, das aller weltlichen Güter und Schätze, genau wie das der Erinnerung, der Zeit, es lässt sich gut in den eigenen vier Wänden erkunden. Wenn das kein Trost ist.

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