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Automatenmenschen. Szene aus Susanne Kennedys „Drei Schwestern“ an den Münchner Kammerspielen.

© Judith Buss/Kammerspiele

Wie sich die Theater jetzt digital aufstellen: Das Netz ist der doppelte Boden

Die Bühnen sind geschlossen – und bieten Streaming an. Sogar das Theatertreffen will online gehen.

Hinter Annemie Vanackere gähnt der verwaiste Zuschauersaal des HAU 1. Die Künstlerische Leiterin steht auf der leeren Bühne, hinter einem Pult, und schaut konzentriert in die Kamera. Ihr Auftritt hat etwas Staatsfrauliches. Sie könnte jetzt sagen: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“.

Stattdessen begrüßt sie formvollendet international und durchaus hoffnungsfroh die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Bildschirmen daheim („we try not to shut down our joie de vivre“) und eröffnet auf dem Youtube-Kanal des HAU ein Festival, das eigentlich analog hätte stattfinden sollen, mit einer Reihe von Vorträgen, Diskussionen und Performances. „Spy on Me #2 – Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart“, so lautet der Titel.

Wie digital diese Gegenwart auf einmal tatsächlich sein würde, das hätten sich wohl auch Vanackere und ihr Team nicht träumen lassen.

Die Schließung aller Kultureinrichtungen bringt oder zwingt die Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus dazu, reihenweise mit Aufführungen online zu gehen.

Die Bühnen werden zu ihrem Digitalglück gezwungen

Theater und Netz, das war bis dato eher ein Fremdel-Verhältnis, keine Wunsch-Liaison. Klar, es gibt schon lange die digitalen Angebote der großen Musiktanker, von der Met in New York bis zur Philharmonie Berlin. Und immer wieder haben sich auch Schauspielhäuser bemüht, ihr Publikum per Stream zu finden.

Das Theater Ulm zählt hier zu den Vorreitern, das Schauspiel Dortmund in der auslaufenden Intendanz von Kay Voges hat stets aus allen digitalen Rohren und Kanälen gefeuert. Aber insgesamt hatte man den Eindruck, dass die Theater zwar modern sein wollen, aber nicht so recht wissen, wie ein uraltes Live-Medium auf dem Screen seinen Mehrwert gewinnen soll. Ambitionierte Pläne wie Chris Dercons „digitale Bühne“ am Rosa-Luxemburg-Platz sind heute bloß noch eine Randnotiz des Scheiterns.

In Corona-Zeiten hat sich das Streaming vom Luxusprodukt zur einzigen Präsenzmöglichkeit gewandelt.

Das Schlosspark-Theater war in der vergangenen Woche an mehreren Abenden hintereinander mit einem Live-Stream der amerikanischen Komödie „Schmetterlinge sind frei“ auf Facebook präsent, einer Übertragung aus dem leeren Steglitzer Haus. Die Hauptdarsteller Julia Biedermann und Johannes Hallervorden legen sich in diesem Stück über die Abnabelungsversuche eines blinden jungen Mannes aber auch ohne hörbares Publikumsfeedback ins Zeug. Und die Resonanz aufs Geisterspiel ist ziemlich beachtlich.

Drei Schwestern“ kamen schon nach einer Nacht auf über 4000 Klicks

Am Donnerstagabend schauen nach einer Dreiviertelstunde 707 Menschen zu (wobei diese Zahl sich sekundenweise auch mal um 30 Zuschauer reduziert oder um 18 anwächst, das wäre im Theatersaal doch nervig). Dazu sind 51 Kommentare aufgelaufen: „Ist auch echt cool. Sitz mit nen (sic!) Whiskey im Sessel und kuck live Theater“.

Oder: „Johannes Hallervorden hat 1zu1 die Stimme seines Vaters“. Vielleicht ist der Live-Stream der Traum all jener, die fürs Theater keine Hose anziehen und mit Bemerkungen nicht bis zur Pausen-Bowle warten wollen. Es muss natürlich nicht immer Echtzeit sein. Eine Reihe von Bühnen bieten Inszenierungsmitschnitte aus dem eigenen Repertoire zum Stream an. Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele haben die virtuelle „Kammer 4“ eröffnet, wo jeweils für 24 Stunden eine Aufführung als Streaming-on-Demand zur Verfügung steht. Offenbar ein Erfolgsmodell.

Das Online-Eröffnungsstück – Toshiki Okadas „No Sex“ – wurde in diesem Zeitraum stolze 5900 Mal aufgerufen, Susanne Kennedys „Drei Schwestern“ kamen schon nach einer Nacht auf über 4000 Klicks.

Ähnliche Angebote finden sich landauf, landab, vom Theater Baden Baden bis zur Staatsoper Berlin, vom Theater Konstanz bis zur Staatsoper Stuttgart. Der Verband ASSITEJ und das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (KJTZ) sammeln auf Facebook Links zu Stücken für junge Menschen, es gibt ein Quarantäne-Paket des SWR mit Konzerten und auf Youtube einen Berg alter Theatermitschnitte fürs Bühnen-Binge-Watching. Wer sich einen umfassenden Überblick über alles verschaffen will, was kulturmäßig gerade online läuft, der findet ihn auf der Seite nachtkritik.de.

Die Frage, was sich eigentlich zu streamen lohnt – und ob Theater auf dem Flachbildschirm tatsächlich kulturelle Teilhabe ermöglicht –, rückt dabei erst mal in den Hintergrund. Mit ihren Live- und Konserven-Shows senden die Theater momentan vor allem Lebenszeichen: Es gibt uns noch! Eines der interessanteren Konzepte hat dabei die Berliner Schaubühne.

Auf dem Online-Spielplan (der schon bis zum 17. April komplett ist) stehen unter dem Karl-Valentin-Titel „Zwangsvorstellungen“ nicht nur eine Reihe von Thomas-Ostermeier-Inszenierungen, vom „Volksfeind“ über „Woyzeck“ bis zu „Hamlet“. Sondern auch Preziosen der Vergangenheit: Peter Steins „Prinz Friedrich von Homburg“, „Peer Gynt“ oder die „Orestie“. Oder die „Bakchen“ in der Regie von Klaus-Michael Grüber. Nie war die Gelegenheit günstiger, Theatergeschichte aufzuholen.

Der komplette Online-Spielplan der Münchner Kammerspiele (und anderer Häuser) ist dagegen noch im Entstehen begriffen, auch weil eine Reihe von Rechtefragen mit den Verlagen zu klären sind.

Es gibt zwar feste Regelsätze fürs Streaming von urheberrechtlich geschützten Werken (nur bei Privattheatern wird individuell verhandelt). „Allerdings müssen wir auf Verlagsseite jeweils schauen, ob uns von den Autorinnen und Autoren die Streaming- bzw. Online-Rechte überhaupt eingeräumt wurden“, schreibt Nils Tabert, Leiter des Rowohlt-Theaterverlags, aus dem Homeoffice.

Bei den Berliner Festspielen herrscht Zuversicht

Man bemühe sich natürlich im Moment, den Theatern entgegenzukommen und sich im Einzelfall nicht sklavisch an die bestehenden Regelungen zu halten: „Aber man muss auch bedenken, dass die vielen freiberuflichen Autorinnen und Autoren mindestens so hart von der jetzigen Situation betroffen sind wie die Theater.“

Um Rechte geht es gerade auch bei den Berliner Festspielen. Intendant Thomas Oberender und seine Leute basteln nicht nur daran, die ausgefallenen Gastspiele „Rain“ und „Achterland“ der Compagnie Rosas von Anne Teresa De Keersmaeker online nachzuholen. Yvonne Büdenhölzer, die Leiterin des für 2020 abgesagten Theatertreffens, befindet sich mit ihrem Team auch in Verhandlungen mit sämtlichen Theatern und Produzenten der zehn eingeladenen Inszenierungen, um das Novum eines digitalen Theatertreffens zu ermöglichen – angereichert mit Talks, Hintergrundgesprächen.

Klar ist das dort aufwendig, wo viele Produktionshäuser beteiligt sind (wie etwa im Falle von Florentina Holzingers „Tanz“). Aber bei den Berliner Festspielen herrscht Zuversicht.

Und was machen derweil all die Schauspielerinnen und Schauspieler, Performerinnen und Performer im Homeoffice? Sie basteln zum Beispiel an Live-Cam-Formaten oder lesen und spielen Szenen ein, die vor dem Streaming-on-Demand laufen (wie an der Schaubühne). Vielleicht nutzen sie auch die Zeit, um mal in Ruhe online bei den Kollegen vorbeizuschauen. Am HAU etwa, wo das Festival „Spy on Me #2“ noch bis zum 28. März täglich neue Artist Talks, Live-Tutorials oder Performances auf verschiedenen Plattformen zugänglich macht und archiviert. Die Keynote zur Eröffnung kam übrigens vom britischen Künstler und Tech-Autor James Bridle („The New Dark Age“). Der warnte per Video-Lecture, mal grob zusammengefasst, vor der Verblödung des Menschen durch die digitale Technik.

Dem echten Theaterfan muss man das freilich gar nicht erst erklären. Online allein ist auch keine Lösung.

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