zum Hauptinhalt
Wurde 1981 in St. Petersburg geboren: Die Schriftstellerin Lena Gorelik

© Charlotte Troll/Rowohlt

"Wer wir sind" von Lena Gorelik: Mögenswert

Lena Gorelik erzählt in „Wer wir sind“, wie sie 1992 mit ihrer Familie aus Russland nach Deutschland kam. Hauptfigur darin ist die Sprache.

Ständig ist da die Scham, die das junge Mädchen einholt. Scham, die in allen Ecken des Flüchtlingsheims lauert. Die mit dem Geruch nach Bratfett zu tun hat, mit Schimmel, mit dem Stacheldrahtzaun, der das Heim umgibt. Scham, das ist das Gefühl, kein vorzeigbares Zuhause zu haben, in das man Mitschülerinnen einladen kann.

Das Gefühl, falsch zu sein, nicht dazuzugehören. Also stottert Lena, die Erzählerin, lieber herum, gibt immer neue Straßen an, wo sie angeblich wohnt. Ein Flüchtlingskind mit unzähligen Adressen.

Als Lena Gorelik 1992 aus St. Petersburg mit ihrer Familie nach Deutschland kommt, ist sie elf Jahre alt, ihr Bruder neun Jahre älter.

Sie alle sind jüdische „Kontingentsflüchtlinge“, in ihrer Heimat hat Lena immer wieder unter verächtlichen Kommentaren wegen ihrer jüdischen Herkunft gelitten.

Ihr neues Zuhause ist eine Flüchtlingsbaracke im schwäbischen Ludwigsburg, wo 60 Frauen und Männer auf engem Raum zusammenleben und sich eine einzige Dusche teilen. Eineinhalb Jahre lebt die Familie hier, bevor sie in eine eigene Wohnung ziehen kann. „Wir hatten ja nichts“, lautet der Refrain, den die Mutter später gebetsmühlenhaft wiederholen wird. Ein Refrain der Armut und Zurücksetzung. Der goldene Westen ist ein Land der Grautöne.

Subtiles Psychogramm einer Flüchtlingsfamilie

Mit ihrem autobiografischen Roman „Wer wir sind“ hat Lena Gorelik, die 1981 geboren wurde, ein sehr persönliches Buch geschrieben. Nachdenklich, schmerzhaft, störrisch, hoffnungsvoll. „Wer wir sind“ ist eine berührende Coming-of-Age-Geschichte, denn die Autorin muss unter prekären Bedingungen erwachsen werden.

In ihrem Debütroman „Meine weißen Nächte“ (2004) hatte Gorelik bereits ihre aufreibende Assimilation thematisiert, in einem leichten, oft humorvollen Ton. Der neue Roman, melancholisch grundiert, stellt dagegen viele Fragen, zeigt sich als subtiles Psychogramm einer Flüchtlingsfamilie. Ein Bilderbogen ohne durchgängigen Plot mit immer neuen Szenen und Anekdoten, Zeitsprüngen und Ortswechseln. Manche Szenen reißen plötzlich ab, und erst später werden die losen Fäden wieder aufgenommen.

Ein Roman wie ein Webteppich, der nach und nach Gestalt annimmt. So wie die Familie erst nach und nach in der neuen Heimat Fuß fasst, wirklich heimisch wird sie nie.

Lenas Vater, von Haus aus Diplomingenieur, heuert bei einer Zeitarbeitsfirma an und zieht von einer Fabrik zur anderen. Die Mutter, ebenfalls Ingenieurin, lässt sich zur Buchhalterin umschulen und muss eine Zeit lang putzen gehen.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Großmutter, die mal eine Textilfabrik leitete, tut sich schwer mit der fremden Sprache und glaubt trotzdem, „dass ihr Jiddisch ein wenig wie Schwäbisch klingt“. Über allem lauert die bange Frage, die keiner auszusprechen wagt: War die Auswanderung die richtige Entscheidung, gerade wenn man sich ständig als Outcast fühlen muss?

Umso mehr Druck lastet auf Lena, es zu „schaffen“, erfolgreich zu sein, damit sich die Familieninvestition lohnt. Tatsächlich ist das Mädchen, das die fremde Sprache in kurzer Zeit lernt, erfolgreich, überspringt in der Schule eine Klasse und gilt als Streberin.

Später wird sie in München auf der Journalistenschule angenommen. Lena, die Durchstarterin. So kehren sich in der Fremde die Rollen um, die Eltern werden bisweilen zu hilflosen Kindern, die mit ihrem holprigen Deutsch nicht verstanden werden. Lenas Reaktion? Mitleid.

Ein Roman wie ein Webteppich

Ein vergiftetes Gefühl, das sie nicht haben will, das aber wie ein Bumerang immer wieder zu ihr zurückkommt. Im Restaurant ist sie es, die bestellt, weil sie als Einzige akzentfrei Deutsch spricht. Jahre später wird Lena allerdings die Tochter sein, um die sich die Eltern Gedanken machen, eine junge Frau ohne solide Arbeit, die „nur“ Bücher schreibt. Wie sich die Tochter fühlt, wovon sie träumt, dafür ist in den Köpfen der Eltern kein Platz. Lebensträume sind Luxus. Ihr einziger Kompass ist der Pragmatismus, „den meine Eltern das Leben nennen.“

Lena Gorelik gelingt der Spagat, liebevoll und bisweilen unverhohlen distanziert über ihre Eltern zu schreiben, ohne sich je über sie zu erheben. Da ist die Mutter, die die Tochter mit ihrer Liebe überschwemmt. Oder der mahnende Vater, der Lena ständig mit seiner Frage nervt: „Nu, welche Aufgaben warten auf dich?“

Oder die Großmutter, die in Russland einen Sohn verloren hat, in der Fremde einsam ist und irgendwann anfängt, Dinge zu vergessen. Jeder erlebt die neue Heimat auf seine Weise, speichert unterschiedliche Erinnerungen ab. Darf die Enkelin, die Tochter, überhaupt über ihre Familie schreiben, sie möglicherweise verletzen? Darüber sinniert Lena Gorelik nach, ringt mit sich, um am Ende „trotzig“, wie sie bekennt, „meine Geschichte“ aufzuschreiben. So ist der Roman auch ein Akt der Selbstabsolution.

Sprache ist ein lebendiges Wesen

Die eigentliche Hauptfigur dieses Buches aber ist die Sprache. Mitunter schleust die Autorin russische Sätze und Wörter ein, schon der erste Buchstabe des Romans ist russisch und bedeutet „ich“. Russisch, das ist für die Erzählerin die Sprache der Emotionen, „Babuschka“, Großmutter, ist für sie „eines der schönsten Worte der Welt“.

Die Sprache ist ein lebendiges Wesen, das man erobern muss, das nahe und zugleich unnahbar sein kann. Für Lena Gorelik ist Deutsch die Sprache geworden, in der sie ihre Bücher schreibt, in der ihre beiden Söhne sozialisiert sind. Genau das unterscheidet sie und ihre Kinder: „Wir haben keine gemeinsame Muttersprache.“ Wenn sie ihre Kinder trösten, wenn sie zärtlich mit ihnen sein möchte, fällt sie ins Russische zurück.

„Wer wir sind“ handelt von Entwurzelung und der Anstrengung, heimisch zu werden, von Diskriminierung und dem Ringen um eine neue Identität. Die Zerrissenheit bestimmt den Sound dieses anrührenden Buches, in dem Gorelik nicht nur ungewöhnliche Bilder, sondern auch schöne Neologismen gelingen. Wenn sie etwa beschreibt, wie sehr sie unter dem Gefühl der Ausgrenzung leidet: „Ich bin nicht mögenswert.“ Das Wort wäre einen Duden-Eintrag wert.

Zur Startseite