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Gut verteilt im Saal. Die Berliner Philharmoniker haben Samstag erstmals seit Monaten wieder vor einem größeren Publikum gespielt.

© Stephan Rabold/Berliner Philharmoniker

Wer Ahh sagt, kann auch Bravo rufen: Die Berliner Philharmoniker spielen vor getestetem Publikum

Testing-Pilotprojekt des Senats, Tag zwei: 1000 Zuhörer jubeln in der Philharmonie dem Orchester und seinem Dirigenten Kirill Petrenko zu.

Von der Rampe am Kammermusiksaal stürzen sich Skateboarder mit ihren Brettern krachend hinunter auf den Weg, den sie jetzt eine ganze Weile für sich allein hatten. Doch an diesem grauen Samstag müssen sie ihn teilen.

Es ist der zweite Tag des Pilotprojekts „Testing“, nach dem Auftakt im Berliner Ensemble laden die Berliner Philharmoniker zum Konzert unter Chefdirigent Kirill Petrenko, die Zahl der Tickets steigt von 350 am Schiffbauerdamm auf 1000 in der Philharmonie.

Die Karten waren ratzfatz weg

Wie am BE waren sie auch hier innerhalb weniger Minuten ausverkauft, obwohl nur sein Glück versuchen konnte, wer über Kreditkarte und mobiles Endgerät verfügt. Der Weg zu einer möglichen Wiedereröffnung der Kultur führt übers akribische Datensammeln.

Am Kammermusiksaal reiht sich ein, wer einen Termin in der eigens für diesen Abend errichten Teststation ergattert hat. 500 Besucher:innen können direkt vor Ort ein aktuelles Ergebnis erhalten, alle anderen negative Nachweise von fünf akkreditierten Zentren vorlegen.

Es geht fließend voran und doch bleibt genügend Zeit, um die vollständige Verwandlung des Foyers wahrzunehmen, die an das Set eines Science-Fiction-Films erinnert: leuchtende Leitsysteme, weiße Tresen, medizinisches Personal in Ganzkörperanzügen. „Wir könnten hier ein paar Nierenschalen gebrauchen“, ruft es nebenan. Ahhhsagen und kurz einen Brechreiz spüren, dann geht es hinaus in die Warteschleife vor dem Eingang zum Potsdamer Platz.

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Mit Testcode und Handy in der Hand wollen 20 Minuten Ungewissheit überbrückt werden. Das Thermometer zeigt 4 Grad, dennoch sind die Mäuerchen auf dem Platz besetzt. Man pflegt vorsichtige Rituale des Wiedersehens, läuft im Kreis und wähnt sich doch vorangekommen, raus aus der Zeit, in der ein Konzertbesuch undenkbar schien.

Unter Leuten. Kirill Petrenko dirigiert die Philharmoniker wieder vor Publikum.
Unter Leuten. Kirill Petrenko dirigiert die Philharmoniker wieder vor Publikum.

© Stephan Rabold/Berliner Philharmoniker

Eine Freude, die trügerisch ist, denn Berlin übersteigt an diesem Wochenende die Inzidenz-Schwelle zu einer Verschärfung des Lockdowns. Die Testergebnisse kommen schnell und sind am Ende in der Teststation Kammermusiksaal allesamt negativ.

Bis das Konzert startet, spielen Musiker:innen der Karajan-Akademie, Swingendes für Xylo- und Marimbaphon, Weihevolles für Bläserquintett. Mit Bachs Choral „Jesus bleibet meine Freude“ füllen sich die Reihen, selbst mit 50 Prozent Auslastung wirkt die Philharmonie plötzlich gut gefüllt. So viele Menschen waren hier seit einem Jahr nicht mehr beisammen.

Die Welt schaut auf Berlin

„Fast die ganze Welt schaut heute auf Berlin“, sagt Philharmoniker-Intendantin Andrea Zietzschmann vor dem Auftritt des Orchesters. Überall dort, wo Säle geschlossen sind, hoffe man sehnlichst auf ein Zeichen für die Zukunft. Eine Erwartungshaltung, die Klaus Lederer, der hier einen gut geprobten Spagat zwischen Vorsicht und Sorge um die Kultur hinlegt, sogleich in Bahnen zu lenken versteht.

Der Kultursenator bedankt sich beim Publikum für die Mithilfe und schließt mit dem Hinweis darauf, dass mit dem von der Charité begleiteten Pilotprojekt keine Kulturöffnung gefeiert, sondern dem Gesundheitsschutz zugearbeitet werde. Eine empathische, aber auch deutliche Botschaft: Es geht um das Glück dieser Nacht und was die Politik daraus lernen kann.

Eine Welle des Beifalls brandet auf

Eine Welle des Beifalls begleitet die Philharmoniker:innen zu ihren Pulten. Wischt man sich auf dem Podium Tränen aus den Augen oder nur Maskenkondensat weg? Bewegt ist die Stimmung in jedem Fall. Das Orchester konnte dank seiner Digital Concert Hall zwar viele Konzerte ohne Publikum spielen, muss also keinen Kaltstart hinlegen, doch nichts kann dieses unmittelbare Geflecht aus Spielen und Zuhören ersetzen, aus dem Kultur erblüht.

Kirill Petrenko dirigiert ein russisches Programm als gewaltigen Bogen vom Dunkel ins Licht. Tschaikowskys Fantasie-Ouvertüre zu „Romeo und Julia“ tastet sich durch finstere Katakomben und schwingt sich mit zarter Liebesflamme inmitten eines Tsunami von Hass empor.

Das Orchester funkelt, Petrenko hört ihm dabei zu. Mit Rachmaninows 2. Symphonie hat er vor 15 Jahren bei den Philharmonikern debütiert, heute weiß er dieses Meisterwerk der Melancholie zum strahlenden Triumph zu führen. Danach langes Jubeln. Und zumindest dieses Wiedersehen ist gewiss: Arte sendet die Aufzeichnung Ostersonntag um 17 Uhr.

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