zum Hauptinhalt
Ein Mann und sein Hund in Rom sind an ihrem Fenster Teil eines Flashmobs gegen die Einsamkeit in den Zeiten von Corona.

© picture alliance/dpa

Wenn die Welt wegen Corona stillsteht: Die große Pause

Stille liegt über der Stadt, seit das öffentliche Leben ruht. Mit dem Innehalten könnte ein neues Denken beginnen, global und lokal.

„Statt Krieg haben wir das.“ Diese Bemerkung einer jungen Frau namens Josefine galt in dem vormals viel gespielten Drama „Groß und klein“ von Botho Strauß noch einem Fall von sozialer Neurotik des bundesdeutschen Mittelstandes. Im größeren Kontext des Zeitdiagnostikers Strauß waren diese fünf Worte jedoch schon einer der schlagendsten Sätze der deutschen Nachkriegsliteratur. Und heute hat das einen neuen, geisterhaften Klang.

In coronärer Zeit herrscht ja der Ausnahmezustand. Ein anderes Wort der Stunde heißt Quarantäne. Der Begriff stammt nicht ganz zufällig aus dem Italienischen und Französischen. Zunächst auch meist nur auf zwei Wochen angelegt, wurde die Abschottung womöglich Infizierter während der mittelalterlichen Pest- und Malaria-Epidemien auf etwa vierzig Tage (quaranta giorni) berechnet. In Venedig, wo vor fünfhundert Jahren auch der Begriff des jüdischen Ghettos geprägt wurde, gab es zudem eine eigene, von der übrigen Lagunenrepublik abgesonderte Krankenhaus-Insel. Mit dem Namen „Lazzaretto Nuovo“.

Das Paradox der Coronakrise

Angela Merkel hat schon bei ihrem ersten Auftritt zur Coronakrise auf das „scheinbare Paradox“ hingewiesen, dass menschliche, gesellschaftliche Solidarität nun ausgerechnet die weitestgehende Unterbrechung der sozialen Kontakte bedeute. Abstand, um erst später wieder neue Nähe zu ermöglichen. Das schafft für den Einzelnen, für Familien, für die Wirtschaft und Gesellschaft im Ganzen eine seit 1945 nie gekannte Herausforderung. Für die Kommunikation und damit auch ein Stück Weiterfunktionieren des sozialen und beruflichen Lebens sind immerhin die digitalen Verbindungen ein technischer Segen. Quarantäne, aber mit dem Stream zur Außenwelt.

Die Seuche, von der Mediziner ausdrücklich, aber ungern Politiker sprechen, lehrt freilich auch, dass die Ambivalenz von Distanz und Nähe und im Großen das Verhältnis von Globalität und Regionalität, von internationalen Bündnissen und Nationalstaatlichkeit, von Vernetzung und Abkoppelung entschiedener durchdacht werden muss. Das Virus kennt keine Grenzen, und trotzdem wollen wir ihm (seiner Ausbreitung) Grenzen setzen. Das aber zwingt zu einer neuen Dialektik. Zu einer neuen Balance, in der Abgrenzung nicht zur Ausgrenzung wird.

Forschung als globale Heilserwartung

Einerseits fördert die Globalisierung die Ausbreitung von Krankheitserregern und von immer mehr in vermeintlich sicheren Regionen unbekannten Überträgern (Stichwort: Tigermücke). Doch zugleich hofft die Menschheit über alle Grenzen hinweg auf die international eng vernetzte Community der medizinischen Forschung. Es ist zurzeit die globale Heilserwartung. Typisch, dass da ein Anti-Politiker wie Trump meint, eine Menschheitshoffnung schon bei den ersten Anzeichen eines möglichen Erfolgs, wie im Fall der Tübinger Impfstoff-Forscher, zu seiner (nationalen) Privatsache machen zu können. Mit dem Versuch seines Exklusivdeals entblößt sich Trump nicht nur gewohnt skrupellos, sondern heillos naiv.

Zu den wenigen positiven Aspekten der Krise gehört, dass Polit-Popanze à la Salvini oder Bolsonaro sogar für einen Teil ihrer Anhänger plötzlich nackt dastehen. Rein nationale oder gar nationalistische Konzepte werden im weiteren Verlauf der Krise nicht helfen und noch viel weniger bei der Überwindung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Unverhofft schnell werden möglicherweise auch die stärksten EU-Skeptiker bis hin zu den britischen Brexiteers erkennen (müssen), dass sie im Alleingang schlechter dastehen als im Miteinander; dass sie also wechselweise auf europäische und internationale Zusammenarbeit und Unterstützung angewiesen sind. Durchaus denkbar, dass die extremen Rechten, die das migrierende Virus nicht auf die Migranten schieben können, so zu den Verlierern gehören, wenn die Dialektik zwischen Abschottung und Öffnung, zwischen Sicherheit und Solidarität als Lehre aus der Krise neu austariert wird. In diese Richtung deuten, trotz aller lokalen Begrenztheit, auch schon die AfD-Ergebnisse bei den jüngsten Kommunalwahlen in Bayern.

Helden der Medizin

Bleibt dennoch die Herausforderung im Inneren. Unglücklich das Land, das Helden braucht, sagte einst Brecht, in unfreien Zeiten. Doch ein Glück, dass es in anderen Nöten die aufopferungsvolle, mutige Verantwortung gibt: etwa in der medizinischen und sozialen Versorgung der Gefährdeten. Aber es gibt neben den vielen Problemen noch ein paar besondere. Zum Beispiel die Selbständigen, ob Gastronomen oder Galeristen, Clubbetreiber, Taxifahrer, freie Künstler, freie Fotografen oder Autoren, sie alle stehen vor der schwarzen Null ihrer Einnahmen und rutschen nun in die roten Zahlen. Berlin, keine wirkliche Industriestadt, hängt dabei wie kaum eine andere Metropole an Tourismus, Gastronomie, Kulturszene, an Messen, Ausstellungen, Festivals, Sportveranstaltungen. Man kann hierbei das Wenigste virtuell ersetzen und mit dem Streamen kein wirkliches Ein- und Auskommen generieren. Die Party ist vorbei, und wir wissen nicht, für wie lange.

So bricht die große Pause aus. Bricht tatsächlich aus, und damit die Seuchenmetapher hier nicht weiter einschlägig wird, bedarf es schneller staatlicher Hilfen, um berufliche Insolvenzen und menschliche Existenzvernichtung abzuwehren. Die Party, die für Berlin über alle Clubs und Hipsterlokale hinaus ein wirtschaftlicher Überlebensfaktor ist, kann nur irgendwann weitergehen, wenn selbst bei ausgeschaltetem Licht noch die Stromleitungen intakt bleiben – und die Menschen, die den Schalter kennen.

Bürgergeld für die Betroffenen

Diese Fragen betreffen keine Luxusdebatte. Denn finanzielle Hilfen des Staats sind im Berliner Fall notwendige, Not wendende Investitionen in die Bewahrung der eigenen Infrastruktur. Vom Deutschen Kulturrat kommt hierzu der Vorschlag eines bedingungslosen Bürgergelds für die Betroffenen.

Denkbar, dass dies nach der Krise auch die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen nochmal befördern wird. Kaum ist die Sonne schon frühlingshaft herausgekommen, herrschte auf vielen Berliner Plätzen in den Straßencafés noch einmal fast das gewohnte Leben. Das Lachen ist längst nicht allen vergangen, sollte es auch nicht. Doch täuscht die punktuelle idyllische Oberfläche. Die große Pause klang auch in der letzten Euphorie immer an in den gedämpften, thematisch nur selten noch völlig coronafreien Gesprächen.

Eine früher nur bei starkem Schneefall merkbare Stille zieht über die Stadt, selbst in den Einflugschneisen. Selbst in den Netzen wird der Ton offenbar leiser, oft mitmenschlich aufmerksamer, hast- und hassloser. Dort und in der wirklichen Welt bilden sich neue Netzwerke, Nachbarschaften. Solidarität und soziale Initiativen zur Hilfe in der Krise. Getrennt vereint. Auch über Parteigrenzen hinweg, für Alte, Kranke, Kinder, die Schwächeren.

Die Stille gehört zum Innehalten. Zum Stillstand, der jetzt kein „rasender“ mehr ist, wie ihn Jean Baudrillard in anderen Zeiten diagnostiziert hat. Man kann eher wieder an Anton Tschechow denken. In seinen Stücken zum Anbruch der 20. Jahrhundert-Moderne kommt mitunter ganz unerwartet das Wort „Stille“ vor.

Ausnahmezustände bei Tschechow

Stille meint dabei mehr als eine Regieanweisung. Meint mindestens eine kleine große, eine tiefere Pause. Auch das ein kurzer Ausnahmezustand -– wenn etwa in Tschechows „Drei Schwestern“ eine vielköpfige Gesellschaft plötzlich nur den Drehungen eines leise brummenden Kinderkreisels zuschaut, zuhört. Erstarrt vor der Rotation um sich selbst. Dann wieder: Stille.

Stille ist selten geworden, sogar kostbar. Sie ist eine der letzten öffentlichen Provokationen. Etliche Jahre haben damit jüngere Theaterregisseure gespielt, indem sie eine Aufführung mit demonstrativem Schweigen begannen und die betroffenen Akteure das so lange durchhielten, bis das anschwellende Hüsteln, Kichern oder heimliche Handygucken im Parkett auch ihnen zu viel wurde. Ganz anders aber, wenn etwa in der „Tagesschau“ oder bei „Heute“ die Sprecherin einfach mal eine halbe Minute – in den schnellen Medien eine halbe Ewigkeit – einfach nichts sagen würde. Millionen Zuschauer würden durchdrehen, kein Sender das durchhalten, es gäbe vermutlich einen Abbruch. Als „Technische Störung“.

Still und innezuhalten, geht einer im gewohnten Alltag haltlosen, dauervernetzten Gesellschaft an den Nerv. Reißt sie aber auch aus der Routine. Soziales, massenhaftes Zwangsyoga. Ein Raum der Stille hat heute etwas zugleich Sakrales, Meditatives, ist auch ein Geduldsspiel. Geduld und neue, eigenspielerische Fantasie wiederum braucht es jetzt, um die die große Pause allein, in der Familie, mit kleinen Kindern ohne Kita und offene Spielplätze auszuhalten. Wie beim Warten.

Gemisch aus Hoffnung und Verlangen

Im Warten steckt auch Erwartung. Ein Gemisch aus Hoffnung und Verlangen. Aus Sehnsucht und Vorfreude. Samuel Becketts „Warten auf Godot“, das Jahrhundertstück, ist aus der Erfahrung während des Krieges entstanden: als sich der Autor und seine Frau als Mitglieder der Résistance monatelang in Südfrankreich bei Bauern verstecken mussten. In sozialer Quarantäne lebten und abwarteten.

Die beiden Clochards, Migranten, Flüchtlinge Wladimir und Estragon warten auf einen Godot, der nicht kommt. Pathetische Menschen interpretierten Godot als abwesenden Gott. Als „deus absconditus“. Eine profanere Anekdote besagt jedoch, dass Beckett bei einem Flug nach Paris einmal die Lautsprecherdurchsage eines „Kapitäns Godeau“ gehört und er sich den Namen gemerkt habe. Wer dagegen heute wieder fliegen will, wartet auch erstmal auf einen Flugkapitän Godot. Derweil bessert sich immerhin die Co2-Bilanz. Bei Botho Strauß in „Groß und klein“ fügt die junge Frau Josefine ihrer Bemerkung „Statt Krieg haben wir das“ noch den Satz an: „Haben wir Pech.“

Auch das hat die Welt. Irgendwo auf einem der in Blechverschlägen an die modernen Hochäuser geduckten Straßenmärkte Wuhans hat ein Chinese unter Millionen vielleicht den falschen Hund, die gefangene Schlange, das wilde Geflügel verzehrt und ist als erster dem fatalen Virus begegnet. So hat es im Dezember begonnen. Aber wir sind eben eine Welt, alle mit allen verbunden. Die Globalisierung ist derart auch zum Beweis für den berühmtesten Satz der Chaostheorie geworden. Ein Merksatz tatsächlich für alle Trumps und Bolsonaros: „Schon der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann in Texas einen Orkan auslösen.“

Aber jeder Orkan endet einmal. Wie jeder Ausnahmezustand, der sonst keiner wäre. Wie die Pause, die nur ein Intermezzo ist. Denn der nächste Akt, das neue Spiel folgt allemal.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false