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Broschüre mit antisemitischen Darstellungen von 1988. So ist sie bei der Documenta ausgelegt.

© dpa

Update

Weitere antisemitische Werke auf der Documenta: Politik fordert Sichtung aller Werke, FDP will Unterbrechung der Schau

Nachdem weitere antisemitische Karikaturen auf der Documenta gefunden wurden, fordert die FDP nun einen vorläufigen Stopp der Documenta. Die Schau weist die neuen Vorwürfe zurück.

Auf der Documenta sind neue Bilder mit judenfeindlichen Inhalten aufgetaucht, nachdem die Weltkunstschau bereits nach der Eröffnung von einem Antisemitismus-Skandal erschüttert worden war. Das berichteten am Mittwoch zunächst die „Jüdische Allgemeine“ und „Bild“.

Es handelt sich um Broschüren mit Karikaturen, die das algerische Frauen-Kollektiv „Archives des Luttes des Femmes en Algerie“ (Archive des Kampfes der Frauen in Algerien) im Fridericianum, einem der Hauptausstellungsorte der Documenta, im Rahmen einer größeren Archivpräsentation ausgelegt hat. Inzwischen fordert die FDP eine Unterbrechung der Documenta: „Die neuerlichen Antisemitismus-Vorwürfe offenbaren einen Abgrund. Die Documenta muss sofort unterbrochen werden“, sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai am Donnerstag.

Es könne nicht sein, „dass die Ausstellung weiterhin finanzielle Mittel aus dem Bundeshaushalt erhält, geöffnet ist und Besucher empfängt, während diese ungeheuerlichen Vorgänge nicht restlos aufgeklärt und unterbunden sind“, sagte Djir-Sarai. Antisemitismus sei Hass und könne nie von der Kunstfreiheit gedeckt sein.

Gesellschafter und Claudia Roth fordern eine Entfernung der Zeichnungen

Die beiden Gesellschafter - die Stadt Kassel und das Land Hessen - reagierten auf die erneuten Antisemitismus-Vorwürfe mit der Forderung, dass die diskutierten Zeichnungen „bis zu einer angemessenen Kontextualisierung“ aus der Ausstellung genommen werden sollten. „Der Umgang mit den Zeichnungen zeigt, wie dringend notwendig die externe Expertise bei der Analyse von Werken auf antisemitische (Bild-)Sprache ist“, teilten sie am Donnerstag mit. 

Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth ist für eine zumindest zeitweilige Entfernung der neuen als antisemitisch kritisierten Kunstwerke von der documenta. „Es ist gut und richtig, dass die Gesellschafter der documenta die künstlerische Leitung jetzt aufgefordert haben, diese Zeichnungen aus der Ausstellung zu nehmen“, sagte Roth am Donnerstag in Berlin.

„Der Umgang mit diesen Zeichnungen vor dem Amtsantritt von Herrn Farenholtz zeigt erneut, wie wichtig und notwendig ein externes Gremium von Expertinnen und Experten ist, das eine Analyse und Einordnung der auf der documenta gezeigten Werke in Bezug auf mögliche antisemitische Bildsprachen vornimmt" so Roth. "Diese Expertise sollte dann von den Verantwortlichen der documenta auch sehr ernst genommen werden.“

Ein Besucher, der anonym bleiben möchte, hatte die Inhalte an die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (Rias Hessen) gemeldet. Rias Hessen wiederum hat Fotos der Broschüren veröffentlicht und die Inhalte einer gründlichen Prüfung unterzogen. „Wir haben ausführlich recherchiert, um die Bilder in einen Kontext zu stellen“, sagt Susanne Urban, Leiterin der Rias Hessen, dem Tagesspiegel.

Die Interpretation der Bilder, die Aufklärung darüber, sieht Rias als seine Aufgabe an, nicht jedoch, politisch bei der Documenta-Leitung oder dem Kuratorium zu intervenieren.

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Auf den drei Bildausschnitten, die veröffentlicht wurden, sieht man unter anderem eine Frau, die einem behelmten und mit einem Davidsstern gekennzeichneten Soldaten ein Knie in den Unterleib rammt. Im Hintergrund sind vier Füße zu sehen, die äußeren mit arabischen Schriftzeichen bemalt, die inneren mit Davidstern. Die Szene soll eine Vergewaltigung darstellen. Ein Kind steht in der Ecke.

Auf einem anderen Bild zieht ein jüdischer Soldat mit Gewehr ein Kind am Ohr, während im Hintergrund Hände aus einer Grube herausragen. Es wird insinuiert, dass jüdische Soldaten Kinder umbringen oder mit dem Tod bedrohen. Diese Bilder sind Rias Hessen zufolge auch im Kontext alter antisemitischer Stereotype zu sehen.

Pubilkation von Archives des Luttes des Femmes en Algerie in der Ausstellung im Fridericianum.
Pubilkation von Archives des Luttes des Femmes en Algerie in der Ausstellung im Fridericianum.

© dpa, Uwe Zucchi

Nach Angaben von Rias Hessen handelt es sich bei der Broschüre um das 34 Jahre alte faksimilierte Heft „Presence des Femmes“, eine Sonderausgabe zu Palästina von 1988, dem ersten Jahr der Intifada.

„Die betreffenden Zeichnungen, so Rias Hessen, zeigten das Land Palästina, versehen mit Einordnungen, die dem Staat Israel seine Legitimität absprechen. Es seien darin Auszüge aus dem Heft „Ghassan Kanafanis Kinder“ enthalten.

Ghassan Kanafani war Autor und Sprecher der terroristischen „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PLPF). Er starb 1972 bei einem Anschlag im Libanon. Die Geschichten entstanden nach Angaben von Rias zwischen 1962 und 1969, heißt es in der „Jüdischen Allgemeinen“.

Susanne Urban zufolge wurde die Broschüre zunächst aus der Ausstellung entfernt, lag dann aber einige Tage später wieder an ihrem Ort.

Die Documenta will die Werke der Ausstellung nicht umfassend prüfen

Inzwischen bestätigte die Documenta, zunächst auf Anfrage der Zeitung „Die Welt“, dass die Bilder zwischenzeitlich einer Prüfung unterzogen worden seien: Es gebe „zwar eine klare Bezugnahme auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, aber keine Bebilderung von Juden 'als solchen“, sagte eine Sprecherin den Angaben zufolge.

In der Stellungnahme heißt es: „Der Davidstern ist zwar ein eindeutig jüdisches Symbol, aber kennzeichnet hier als Bestandteil der Staatsflagge das israelische Militär.“ Das Werk sei als strafrechtlich nicht relevant eingestuft worden. Es soll nun aber nach „erneuter Betrachtung“ eine „Kontextualisierung in der Ausstellung“ vorgenommen werden.

Die Documenta ließ außerdem wissen, dass eine umfassende Prüfung der in Kassel gezeigten Werke nicht geplant sei. „Ein Screening der Ausstellung nach etwaigen antisemitischen Motiven wird es nicht geben.“ Ein Entscheidung, die massive Kritik hervorruft. Neben dem Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa ist auch Interims-Geschäftsführer Alexander Farenholtz aufgefordert, die Aufarbeitung des Skandals voranzutreiben.

Dieser hatte kürzlich betont, unter keinen Umständen dürfe „der Eindruck entstehen, dass durch die fachwissenschaftliche Begleitung eine Kontrollinstanz eingeführt wird“. Farenholtz ist nach der Abberufung von Generaldirektorin Sabine Schormann Anfang letzter Woche in sein Interims-Amt berufen worden.

Neue Proteste aus der Politik und der Zivilgesellschaft

Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, zeigte sich entsetzt über die neuen Vorfällte „Während unser pädagogisches Team am Infostand auf dem Friedrichsplatz über antisemitische Bildsprache aufklärt, werden erneut übelste antisemitische Karikaturen bekannt, auf die die künstlerische Leitung der Documenta und Frau Schormann aber offenbar schon vor Wochen von einer Besucherin hingewiesen worden waren“, sagte Mendel der dpa.

„Es stimmt mich ehrlich fassungslos, dass ich als damaliger Berater der Documenta nicht darüber informiert und stattdessen auf Basis eines juristischen Gutachtens entschieden wurde, die problematischen Werke mit eindeutig antisemitischer Bildsprache in der Ausstellung zu belassen.“

Kritik kommt auch aus der Politik. FDP-Generalsekretär Djir-Sarai forderte nicht nur eine Unterbrechung der Weltkunstausstellung, sondern eine umfängliche Überprüfung auf weitere antisemitische Werke und Inhalte. Auch FDP-Außenpolitiker Frank Müller-Rosentritt sagte: „Trotz vielfacher Warnungen und Hinweise wurde nicht verhindert, dass antisemitische Werke bei der Documenta veröffentlicht wurden“. Bis zu einer Überprüfung sollten die Bundesmittel gestoppt werden.

Die Documenta wird zu etwa 10 Prozent vom Bund finanziert, hauptsächlich speist sich der Etat aus Mitteln der Stadt Kassel und des Landes Hessen.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprach früh auch mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth über möglichen Antisemitismus bei der Documenta.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprach früh auch mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth über möglichen Antisemitismus bei der Documenta.

© Patrick Pleul, dpa

Der kulturpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Helge Lindh, sagte in der „Welt“, die Bilder erinnerten „unweigerlich an typische NS-Karikaturen“. Auch Lindh fordert „eine umfassende Sichtung und Begutachtung des Gesamtbestands an Kunstwerken auf antisemitische Motive durch externe deutsche und internationale Experten“.

Der Antisemitismus werde von der Documenta-Leitung „nicht ernst genommen, vielleicht sogar toleriert“, kritisierte wiederum die in der Grünen-Bundestagsfraktion für Antisemitismusbekämpfung zuständige Abgeordnete Marlene Schönberger.

Auch Forderungen nach weiteren personellen Konsequenzen wurden am Donnerstag laut. Der Vorsitzende des Jüdischen Vereins Werteinitiative, Elio Adler, forderte den Interims-Geschäftsführer der documenta, Alexander Farenholtz, zum Rücktritt auf.

Die Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann, appellierte an die Stadt Kassel, das Land Hessen und den Bund, die documenta nicht weiter zu finanzieren. Zudem müsse die Schau „für eine Überprüfung sämtlicher Kunstwerke und eine umfassende Aufarbeitung der bereits bekannten Vorfälle von Antisemitismus unterbrochen werden“.

Zentralrats-Präsident Schuster kritisiert auch den neuen Documenta-Chef Farenholtz

Aus der Union hieß es seitens der stellvertrenden Fraktionsvorsitzenden Dorothee Bär: „Menschenverachtenden Antisemitismus unter dem Etikett der Kunstfreiheit verstecken zu wollen, ist nicht hinnehmbar.“ Auch sie hält eine Überprüfung für zwingend. Elio Adler von der Werteinitiative bezeichnete die ausbleibende Prüfung als „Schlag ins Gesicht“. Der Antisemitismus werde von der Documenta toleriert, „offensichtlich im vollen Bewusstsein seiner Existenz“.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, erhob Vorwürfe speziell auch gegen die neue Documenta-Leitung: „Entweder ist bei der Documenta niemand in der Lage, Antisemitismus zu erkennen, oder es ist niemand bereit, ihn zu verhindern“, sagte Schuster der „Bild“. Der Zentralrats-Chef kritisierte demnach, dass der neue Documenta-Chef Farenholtz sich sträube, eine fachwissenschaftliche Begleitung einzusetzen.

Die documenta-Gesellschafter erklärten indes, dass Farenholtz für die kritisierten Versäumnisse nicht verantwortlich sei. Den Angaben zufolge war die Ausstellungs-Leitung bereits vor drei Wochen von einer Besucherin auf die als Archivmaterial präsentierten Zeichnungen Karkoutlys aufmerksam gemacht worden.

Für die Informationsstelle Antisemitismus sind die Karikaturen eindeutig judenfeindlich

Nach der Einordnung von Rias Hessen sind die Bilder klar antisemitisch, sie verlagerten „das Bild von „den Juden“ auf den „jüdischen Staat“. „Auffallend sei, dass die als israelische Soldaten gekennzeichneten Personen vor allem kleinere Jungen und Jugendliche bedrohen. Das Bild des „Kindermörders Israel“ klinge hier sehr deutlich an“, zitiert die „Jüdische Allgemeine“ Rias.

Wurde als Documenta-Generaldirektorin abgesetzt: Sabine Schormann.
Wurde als Documenta-Generaldirektorin abgesetzt: Sabine Schormann.

© Swen Pförtner/dpa/AFP

„Es ist wichtig zu erkennen, dass die Bilder eine Wirkung bei den Betrachtern haben, unsere Aufgabe ist es, Bilder des Antisemitismus zu erklären, sie zu dekonstruieren und aufzuzeigen, welche Macht von ihnen ausgeht.“ Rias möchte Bilder wie diese in seiner Bildungsarbeit einsetzen.

Susanne Urban bedauert, dass die Bedenken der jüdischen Gemeinschaften von Seiten der Documenta nicht ernst genommen worden sind. Unter anderem hatte der Zentralrat der Juden in Deutschland früh gewarnt. Eine Überprüfung der Inhalte der Documenta durch Fachleute wurde zwar vom Documenta-Aufsichtsrat erst kürzlich erneut beschlossen, hat bis jetzt aber offenbar nicht begonnen.

Dem Documenta-Handbuch zufolge zeigt „Archives des Luttes des Femmes en Algerie“ eine „Chronik der Frauenbewegung und der Frauenmobilisierung in Algerien, einschließlich Interviews mit Aktivistinnen“. Gegründet wurde die Frauen-Initiative 2019 von der Anthropologin und Forscherin Awl Haouati mit dem Ziel, schriftliches und fotografisches Material von Aktivistinnen und Frauenvereinigungen für die Diaspora zugänglich zu machen. Im Fridericianum sind laut Handbuch 60 Reproduktionen unterschiedlichen Materials zur Frauenrechtsbewegung in Algerien ausgestellt. Urban sagt: „Das zeigt, dass auch gut gemeinte, freiheitliche Bewegungen nicht frei sind von Antisemitismus.“ (mit dpa/AFP)

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