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Vom Osten weht’s herein. Ein sowjetischer Militärzug auf dem Schlesischen Bahnhof im Jahr 1945, dem heutigen Ostbahnhof.

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Weimarer Republik: Historiker Karl Schlögel erkundet das "russische Berlin"

Karl Schlögels „Das russische Berlin“ gilt als Geschichtsklassiker. Neue Kapitel folgen Einzelschicksalen der Weimarer Republik.

„Von einer ,Normalisierung’ kann vorerst jedenfalls keine Rede mehr sein“, schreibt Karl Schlögel am Schluss seines Vorworts zur erweiterten Neuausgabe des Klassikers „Das russische Berlin“. Als er das Buch 1998 erstmals veröffentlichte, schrieb der Berliner Historiker noch zuversichtlich: „ Zum ersten Mal nach einem Jahrhundert furchtbarer Verwicklungen und Zusammenstöße gibt es zwischen Russland und Deutschland keine wirklichen Probleme mehr.“ Von solchem Optimismus ist Schlögel nach den Erfahrungen mit Präsident Putin, der Annexion der Krim und der Behandlung der EU als Feind, abgerückt. Das allein ist bitter genug; denn einen besseren Botschafter gegenseitigen Verstehens und Verstehenwollens, als den lange Zeit an der Viadrina in Frankfurt an der Oder lehrende Schlögel, wird man schwerlich finden. Sein Urteil hat Gewicht, und wenn es nun so resigniert ausfällt, dann bezeichnet das das Verkümmern einer Hoffnung, die aus dem Zerfall der vormaligen Blockkonfrontation mit ihrem Zentrum, der deutschen Teilung, erwachsen war.

Seinem Buch tut das indessen keinen Abbruch, und seinem Forschungsinteresse ebenso wenig. Drei neue Kapitel hat Schlögel der Neuausgabe hinzugefügt, die an diesem Wochenende in die Buchhandlungen kommt. Man sollte meinen, dass sich die Hinzufügungen mit dem gegenwärtigen Stand des „russischen Berlin“ beschäftigen, das Schlögel auf 300.000 Zuwanderer russischer Sprache schätzt. Doch das war bereits zur Zweitauflage 2007 geschehen. Jetzt hat sich Schlögel drei Personen oder Gruppen vorgenommen, die dem deutschen Leser wohl eher fremd sind und genau damit die Spannweite der deutsch-russischen Gemengelage im Berlin der Weimarer Republik bezeichnen. Es handelt sich zum einen um die Wissenschaftler der Brüder Kulischer und Joseph Schechtman, dann um Nikolai Berdjajew und schließlich, älteren Leser vielleicht gerade noch ein Begriff, um Edwin Erich Dwinger.

Dwinger - der ewige Frontoffizier

„Über Russland im Kopf der Deutschen im 20. Jahrhundert zu sprechen, ohne Dwingers Romane zu zitieren, ist gänzlich unmöglich“, urteilt Schlögel. In Kiel als Sohn eines Marineoffiziers und einer russischstämmigen Mutter geboren, im Krieg erst in russische und später, als Freiwilliger der Weißen im Bürgerkrieg, in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, machte er um 1930 mit drei Romanen über die Kriegsgefangenschaft und den Bürgerkrieg Furore – wobei sein Roman „Zwischen Weiß und Rot“ über den Bürgerkrieg in Sibirien von rechts wie von links Beifall erhielt.

Tatsächlich war Dwinger der ewige Frontoffizier, der als Russlandexperte bei den Nazis eine gewisse Karriere machte – die er sich, als er sich im Verlauf des Zweiten Weltkrieges gegen die Bezeichnung der Russen als „Untermenschen“ aussprach, wieder verscherzte. Immerhin ging er so nach 1945 als „Mitläufer“ durch und begann aufs Neue über Russland zu schreiben. Kein Zweifel, „Dwinger war nicht irgendwer, sondern eine zentrale Gestalt“, was das Russlandbild der Deutschen betraf (merkwürdig nur, dass Schlögel den Einfluss übersieht, den unter anderem Dwingers Schilderungen der Grausamkeiten des Bürgerkriegs – Stichwort „Rattenkäfig“ – auf Ernst Noltes berühmt-berüchtigte Überlegung zum „kausalen Nexus“ von Gulag und Auschwitz gehabt haben).

Schlögel ist Pathos nicht fremd

Während Dwinger, der „wie kaum ein anderer sentimentale Russophilie und Vernichtunsgbereitschaft im Weltanschauungskrieg zusammenbrachte“, mit Berlin nur äußerlich in Beziehung stand, wurden die beiden Jahre, die der 1922 auf Anweisung Lenins auf einem der drei „Philosophenschiffe“ aus Sowjetrussland ausgewiesene Nikolaj Berdjajew in Berlin verbrachte, entscheidend: Hier leitete er die „Abteilung für geistige Kultur“ am „Russischen Wissenschaftlichen Institut“, das 1923 in den Räumen von Schinkels Bauakademie aus der Taufe gehoben wurde. Hier schrieb er und veröffentlichte das Buch „Das Neue Mittelalter“, in dem er eine differenzierte Sicht auf die bolschewistische Revolution unternimmt, die ihn bei den Fanatikern der Berliner Exilszene suspekt macht. „Die Revolution muss sich selbst erschöpfen und zerstören“, heißt es da – eine Prophezeiung, von der keiner ahnte, dass ihr Eintreten fast sieben Jahrzehnte auf sich warten lassen würde.

Schlögel ist Pathos nicht fremd, aber wenn, dann ist es ein fundiertes, wie das – ungemein starke – Kapitel über die drei Gelehrten zeigt, die erforschen, was sie selbst durchmachen mussten: die Zwangsmigration. „Niemand hat das Problem der erzwungenen und freiwilligen Wanderung, der Ausschließung von ethnischen, religiösen, sprachlichen und sozialen Gruppen bis hin zur sozialen und ethnischen Säuberung, den organisierten und gewaltsamen Bevölkerungstransfer, die Umsiedlungspläne im großen Maßstab einschließlich des im Namen von Rasse und Klasse vollzogenen Genozids, so sehr zum Thema gemacht wie die drei Gelehrten, die sich zwischen den Kriegen in Berlin eingefunden hatten: Alexander und Jewgenij Kulischer und Joseph Schechtman“, schreibt Schlögel. Besonders dürften ihn, der in seinem Buch „Im Raum lesen wir die Zeit“ (2003) zeigte, wie sich Geschichte aus Karten und Kursbüchern herauslesen lässt, die Karten fasziniert haben, die die Kulischers ihren Büchern beigaben.

Der Erfahrungskern der Migration

„Berlin ist zum Ausgangspunkt und Endpunkt, zur Durchgangsstation der großen Wanderung geworden“, rundet Schlögel dieses Kapitel ab, das sich liest wie eine neuerliche Conclusio des ganzen, über nun zwei Jahrzehnte hinweg entstandenen Buches. Noch einmal zählt er auf, welche Menschenströme woher kamen und wohin gingen, freiwillig wie die Auswanderer und gezwungen wie die Deportierten.

Was aber hatten und haben Flüchtlinge, gleich woher, gemein? „Es gibt einen harten Erfahrungskern, um den das Denken der Unterlegenen und Überlebenden kreiste und an dem sich die Flüchtlinge aus beiden Regimes abgearbeitet haben: Es ist die Erfahrung der Verlassenheit, der Wehrlosigkeit, des Ausgeliefertseins des Einzelnen im Angesicht des modernen Leviathans.“ Leviathan, wir erinnern uns, ist der absolute Staat, wie ihn Hobbes 1651 beschrieben hat. Vor ihm gibt es, wie die Berliner Migrationsgeschichte zeigt, kein Entrinnen.

Karl Schlögel: Das russische Berlin. Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Extreme. Aktualisierte, erweiterte Neuausgabe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 667 S. m. zahlr. Abb., 38 €.

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