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Weihnachtskonzert des Berliner Rundfunkchors: Wiegenlieder für Erschöpfte

Der Rundfunkchor singt a cappella Werke von Rheinberger, Wolf, Kaminiski und Schönberg. Dessen "Friede auf Erden" wird zum Schrei nach einer besseren Zukunft.


„Der Tag hat mich so müd’ gemacht“: Hugo Wolfs Melancholie trifft die Pandemieerschöpften ins Herz. Der Rundfunkchor Berlin hat sich in seinem Weihnachtskonzert bei Wolfs „Sechs geistlichen Liedern“ (1881) für die Männerchor-Bearbeitung von Max Reger entschieden. Die offenen, wie haltlosen Harmonien, der Duktus der Zurückhaltung und das Balsamico-Timbre der Sänger bringen auch ein anderes Männlichkeitsbild zum Tragen.

Auskomponierte Achtsamkeit, ein weltlich-religiöses Zagen und Hoffen: Reger empfahl sie ausdrücklich für die Männerchöre seiner Zeit, im frühen 20. Jahrhundert, als Revision überkommener Geschlechterklischees.

Ein Abend voller Labsal, nicht wie geplant im Berliner Dom, weil dort wegen der Coronaregeln nur deutlich weniger Publikum Platz gefunden hätte, sondern im farbig ausgeleuchteten Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks. Der Akustik tut das gut, die Klangkultur des Vokalensembles unter Leitung von Chefdirigent Gijs Leenaars kann hier ohne verwischenden Langnachhall aufblühen – A-Cappella-Schönheit als Trost.

Wolfs Heim- und Fernweh, die verschlungen dialogische Doppelchor-Polyphonie von Josef Gabriels Rheinbergers Es-Dur-Messe (1878), Heinrich Kaminskis fein gearbeitete Vertonungen von „Maria durch ein Dornwald ging“ oder dem Gemeinschaftssinn-Wiegenlied „Joseph, lieber Joseph mein“, all das verwandeln die 60 Sänger:innen in Plädoyers für mehr Behutsamkeit.

In Kaminiskis lichten Tongirlanden ebenso wie in Rheinbergers „Sanctus“, das gleichsam von oben herabschwebt. Und das "Dona nobis pacem" wird zur Evokation einer höchst zerbrechlichen Utopie.

[Wer den Rundfunkchor zu Weihnachten hören möchte, kann sich ihre in der Nationalgalerie aufgenommenen Adventsgruß-Videos anschauen: hier ein Link]

Der Rundfunkchor beherrscht nicht nur die aparte Kunst des Pianos, der Einmütigkeit und eines Klangflusses mit elegant rundgeschliffenen Kanten. Zum Höhepunkt des Abends wird Arnold Schönbergs achtstimmiger Klageruf „Friede auf Erden“ von 1907, jenes Werk opus 13 nach einem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer, das der Komponist selbst eine "Illusion für gemischten Chor" genannt ghat

Zerklüftete Melodik, anbrandende, refrainartig wiederholte und variierte Verzweiflung, die in fast schrille Hoffnung umschlägt. „Etwas wie Gerechtigkeit/Webt und wirkt in Mord und Grauen“: Frieden, diese Zukunftsvision, bedeutet Knochenarbeit. Bei den Zugaben bedauert es Gijs Leenaars, dass der Saal bei „Stille Nacht“ nur innerlich mitsingen darf.

Nachdem das Weihnachtskonzert letztes Jahr ausfiel, nach anfänglichem Gesangs-Verbot, langen Lockdowns und Chorproben unter aufwändigen Bedingungen dürfen nächstes Jahr hoffentlich wieder alle. Es wäre so schön.

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