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Herausforderung Nichtstun. Familie in Tschechows "Onkel Wanja" in einer historischen Aufführung mit Paul Bildt.

© Deutsche Fotothek/Wikipedia

Weihnachtskolumne Heilige Familie, 1. Folge: Zeit ist Liebe

Weihnachtszeit ist Familienzeit. Höchste Zeit, sich über das Phänomen ein paar Gedanken zu machen. Heute: Familie und Theater

Die Frage bewegt mich schon lange. Ist die Familie der Ursprung des Theaters oder verhält es sich umgekehrt: Gibt es Familie, weil es Theater gibt? Weihnachten kann vielleicht eine Antwort geben. Und Tschechow hilft immer weiter. Seine Stücke, ob „Der Kirschgarten“ oder „Onkel Wanja“, drehen sich um Familie und (Seelen-)Verwandtschaft und nichts anderes. Man versammelt sich zwar in der Sommerfrische auf dem Land, doch herrscht in der Tschechow-Family immerzu ein Weihnachtsgrundgefühl, also: Man freut sich aufeinander, hat aber sogleich Probleme und schnell Streit. Alte Konflikte brechen auf und siehe da: Sie sind brandneu und taufrisch.

Wie zum Jahresende auch, so ziehen die Tschechow-Menschen, die uns so ähnlich sind, häufig Bilanz. Die fällt in der Regel nicht so gut aus, woraus sich weitere hoch emotionale Verwicklungen wie von selbst ergeben. All das passiert, weil die Tschechows Zeit haben, viel Zeit. Das weihnachtliche Nichtstunmüssen bei gleichzeitiger familiärer Dauerbeschäftigung, so lautet die Konfliktformel.

In Tschechows Familienstücken ist die Zeit die Hauptfigur

„Drei Schwestern“ heißt ein anderes Familienstück des genialen Dramatikers, der Arzt war und früh starb, 1904, mit nicht einmal 45 Jahren. Bei den „Drei Schwestern“ – die übrigens im Stück auch einen Bruder haben, der wird oft vergessen, weil er nicht im Titel steht –, heißt die Hauptfigur nicht Olga, Mascha oder Irina und auch nicht Andrej. Es ist vielmehr die Zeit selbst. Also das, wovon die Menschen am meisten haben und womit sie meist nicht richtig umgehen. Zeit: das kostbarste Geschenk, das man anderen Menschen machen kann. Zeit ist nicht Geld, wie ein dummer Spruch behauptet. Zeit ist Liebe. Damit ist das Drama beschrieben.

Weihnachten hat mit Theater übrigens auch formal viele Gemeinsamkeiten: das Licht, das Ritual, das Bühnenbild, Textbuch und Musik. Nicht alle macht es glücklich. Und da sind wir wieder bei Tschechow. In jedem seiner unsterblichen Stücke gibt es eine Figur oder auch mehrere, die fliehen wollen. Nur weg von der Familie, wegrennen vor sich selbst.

In einer ländlichen Erzählung von Tschechow heißt es: „Nikolai und Olga saßen am Rande des Abhanges und sahen, wie die Sonne unterging, wie der goldene und blutrote Himmel sich im Flusse und in den Fenstern der Kirche spiegelte und die ganze Luft erfüllte, die so mild, still und unsagbar rein war, wie sie es in Moskau niemals ist. Und als die Sonne sich gesenkt hatte, die Herde brüllend und blökend vorbeigezogen war und die Gänse vom anderen Ufer zurückkamen, wurde alles still, das milde Licht in der Luft erlosch, und die Abenddämmerung senkte sich schnell herab.“ Frieden, mit einem Wort. So könnte Weihnachten sein und werden. Man freut sich ja immer wieder darauf. Man geht ja immer wieder gern ins Theater.

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