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Hasta la vulva. „Judith Shakespeare“ von Paula Thielecke.

© DT/Lex Karelly

Was treibt Theaterautoren heute um?: Wokeness für Dummies

Zum Abschluss der Leistungsschau der Gegenwartsdramatik: Die Lange Nacht der Autor:innen am Deutschen Theater

Wow, was für eine Nachricht: „Der Dramatiker William Shakespeare hat sich am letzten Donnerstag selbst angezeigt. Er gibt zu, im Laufe seiner Karriere eine Vielzahl von Frauen vergewaltigt, sexuell belästigt, manipuliert, psychisch verwirrt und sie mit anzüglichen SMS verängstigt zu haben.“

Um Wiedergutmachung zu leisten, fordert Shakespeare alle Theater dieser Welt auf, keins seiner Stücke je wieder aufzuführen. Stattdessen sollen bitte die Werke seiner Schwester Judith und ihrer vielgeschlechtlichen Schwestern im Geiste die Spielpläne erobern. Damit, Zitat, endlich „die hegemoniale Deutungshoheit kulturstiftender Klassiker überschrieben“ wird. Na dann: Vorhang auf für die schöne neue Theaterwelt!

Ausgewählt aus 200 Einsendungen

„Judith Shakespeare – Rape and Revenge“ heißt das Revolutionsstück von Paula Thielecke, das für die diesjährige „Lange Nacht der Autor:innen“ am Deutschen Theater aus über 200 Einsendungen ausgewählt wurde – von einer Jury bestehend aus der Schauspielerin Julischka Eichel, dem Dramatiker Ferdinand Schmalz sowie der Musikerin und Theatermacherin Christiane Rösinger.

Die Gewinnertexte kommen in Koproduktion mit den Partnertheatern Schauspielhaus Graz und Schauspiel Leipzig zur Uraufführung. Und sie werden traditionell zum Abschluss der Autor:innentheatertage am DT gezeigt. Das ist Jahr für Jahr eine spannende Veranstaltung. Was treibt die Gegenwartsdramatiker:innen um? Wie werden ihre Texte hörbar gemacht? Und ist den prämierten Stücken ein Nachleben zuzutrauen?

„Das Augenlid ist ein Muskel“ von Alexander Stutz entwirft jedenfalls eine spannende Konstellation. Es geht um Aaron, der Überlebender von Missbrauch ist, und aus dem komplexen Geflecht von verdrängten Erinnerungen, Scham, Schweigen und Misstrauen nicht herausfindet.

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Stutz faltet diese Geschichte in Rückschauen auf, in Erzählungen von der rituellen sonntäglichen Autofahrt zum Haus der Großmutter in der Kindheit etwa. Die Mutter hört Modern Talking, der Bruder hängt am Gameboy. Glückliche 30 Minuten. Aber in diesem Haus hat sich auch ereignet, worüber in der Familie nie gesprochen wurde.

In der Box des DT verteilt Regisseurin Jorinde Dröse den Text auf vier Spieler:innen – Hilke Altefrohne, Paul Grill, Andreas Leupold und Niklas Wetzel – die sich auf karger Bühne, zwischen Videoscreen und Mikrofon, an die vielstimmige Zeug:innenbefragung machen. Zu Wort kommen dabei auch Aarons Augen und Magen oder ein Kloß im Hals. Ein Perspektivenspiel, das Dröse allerdings nicht mit überbordendem Einfallsreichtum in Szene setzt.

Logopädischer Furor dominiert

Die Dramatikerin Raphaela Bardutzky hat inszenierungstechnisch nicht viel mehr Glück. Ihr Stück „Fischer Fritz“ – in der Regie von Enrico Lübbe als Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig in den Kammerspielen des DT zu sehen – ist als „Sprechtheater“ gelabelt.

Mit logopädischem Furor werden allerlei Wortzerlegungsübungen performt, um die Geschichte eines Fischers mit Schlaganfall zu erzählt, der sich eine polnische Pflegekraft ins Haus holt. Mit fortschreitender Dauer allerdings entfaltet sich Bardutzkys Sprachmacht weniger plakativ und schafft schöne, leisere Momente von gemeinsamer Einsamkeit.

Ein anderer Fall ist „Judith Shakespeare – Rape and Revenge“. Der Text, von Regisseurin Christina Tscharyiski fürs Schauspielhaus Graz inszeniert und auf der großen Bühne des DT gezeigt, ist ein einziges Missverständnis. Was sich anfangs als Theaterbetriebssatire gibt, wird schnell zur „Wokeness für Dummies“-Revue.

Die von Maximiliane Hass verkörperte Schwester im Schatten (die Idee geht auf Virginia Woolf zurück), die als Ausweis ihrer Selbstermächtigung immer „Hasta la vulva“ ruft, lectured das Publikum mit einem längst Mainstream gewordenen, queerfeministisch-intersektionalen Debattenstand, der als Avantgarde verkauft wird. Schade. Ausgerechnet dieses Festival der Gegenwartsdramatik macht am Ende Lust darauf, sich mehr Shakespeare-Stücke anzusehen. Von William allerdings.

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