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Künstliche Liebe. Szene aus dem interaktiven Film „Detroit: Become Human“.

© Sony Interactive Entertainment

Was steckt hinter dem Hype?: Interaktive Serien und Filme als Gamingtrend

Existentialismus im Gamepadformat: Eine neue Spielegeneration erobert die Konsolen. Sie wollen mit einer Ästhetik der Entscheidung das Erzählen revolutionieren - und stoßen dabei an alte Grenzen.

In ruhigen Momenten erinnert sie sich, wie sie Lee in ihrem verwüsteten Familienhaus begegnete, wie er sie lehrte in dieser kalten, grauen Welt zu überleben – und plötzlich krank wurde, infiziert. Es ist das erste Mal, dass Spieler in die Haut von Clementine schlüpfen, damals eine Achtjährige, sie zittert, hält eine Pistole in der Hand. Sie müssen entscheiden: Erlösen sie ihren Ziehvater oder lassen sie ihn zum Monster werden?

„Diese Geschichte verändert sich, je nachdem, wie du sie spielst.“ Das ist das große Versprechen, mit dem die kanadischen Entwickler von Telltale Games 2012 ihre Adaption des Kultcomics „The Walking Dead“ veröffentlichen, der Slogan eines immens erfolgreichen Do-It-Yourself-Dramas, das jetzt in die vierte und finale Staffel geht. Clementine, das Mädchen von einst, ist erwachsen. Eine Gezeichnete, wiederum selbst Beschützerin und Mentorin. AJ, der Ziehsohn an ihrer Seite, kennt nichts anderes mehr als die Zombieapokalypse. Hört er jemanden Klavier spielen, ist er gleichzeitig fasziniert und beängstigt. Lärm lockt die wandelnden Toten an. Lässt man ihn trotzdem auf die Tasten hauen?

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„The Walking Dead“ – bekannt auch als Fernsehserie – ist Teil einer neuen Generation von Games, die sich seit Jahren im boomenden Gamingmarkt etabliert. Sie ähneln interaktiven Serien und Filmen, verbinden moralisches Drama und soziale Simulation. Spielentwickler sprechen gerne von einer neuen Ära des Erzählens, ähnlich dem goldenen Zeitalter des Fernsehens. Das Medium wandert seit Jahren in die Wohnzimmer des Mainstreams, der durchschnittliche Gamer ist über dreißig, die Hälfte weiblich. Diese Zockergeneration will berührt, nicht immer nur erschossen werden.

Die Darbietung ist cineastisch, das Gameplay simpel. Kleine Rätsel, einfache Actionsequenzen, die sich meist auf Knopfdruck lösen lassen. Den Kern bildet das Rollenspiel; Gespräche und Situationen, in denen der Controller eine existentielle Brücke in die fiktive Welt schlägt. Der Spieler beeinflusst, was für eine Person Clementine wird. Er muss sich nur bewusst sein: Der kleine AJ erinnert sich an sein Verhalten, orientiert sich daran. Ähnliches gilt für andere Figuren. Ob die kratzbürstige Violet sich einem gegenüber öffnet, hängt davon ab, ob man ihre Sympathie gewinnt. Das Game inszeniert die Verstrickungen menschlicher Beziehungen in einer Ästhetik der permanenten Entscheidung, die raffiniert mit Gefühlen spielt.

Die Zombies werden dabei zum moralischen Brandbeschleuniger. Versorgungsknappheit, ständige Gefahr, Hunger: Welche Werte vertritt man im Angesicht der Katastrophe und in einer Welt, die den Halt der Zivilisation verloren hat? Was heißt Leben in einer Gegenwart lebender Toter? Das Spiel zwingt einen auf knallharte Dilemma zu antworten. Erkenne dich selbst, der alte Orakelspruch von Delphi, wird sozusagen komprimiert aufs Gamepadformat. Und die Zeit läuft immer davon.

Die Hölle, das ist die Postapokalypse. Telltales "The Walking Dead" stellt moralische Dilemma in den Vordergrund.
Die Hölle, das ist die Postapokalypse. Telltales "The Walking Dead" stellt moralische Dilemma in den Vordergrund.

© Telltale Games

High Stakes, eine persönliche Fallhöhe. Vielleicht wird die Tragödie der Zukunft maßgeschneidert wie der Anzug. In einer Zeit, in der man sein Müsli individualisieren kann und agency das Buzzword des öffentlichen Diskurses ist, liegt der Trend zum interaktiven Storytelling nahe. Telltale Games wuchs mit dem Format von einer Handvoll Entwickler zum millionenschweren Marktführer. Lizenzriese Lionsgate („Mad Men“, „Die Tribute von Panem“) kaufte sich ein. HBO ließ die Kanadier „Game of Thrones“ adaptieren. Netflix verkündete kürzlich eine beidseitige Partnerschaft. Der Streaming-Gigant wird ein Spiel in sein Programm aufnehmen, Telltale macht dafür den Hit „Stranger Things“ zum Game.

Einen ähnlichen Aufstieg feierte Dontnod Entertainment mit der interaktiven Serie „Life is Strange“, deren zweite Staffel im September erscheint. Sony baut seine Playstation gleich zum Flaggschiff für diese Art Unterhaltung. Erst im Mai dieses Jahres veröffentlichte Quantic Dream mit „Detroit: Become Human“ exklusiv für die Konsole einen interaktiven Androiden-Thriller über die Mensch-Maschine-Beziehung, der sich wochenlang oben in den Verkaufscharts hielt.

Weitere Projekte sind angekündigt. Der Enthusiasmus großer Konzerne lässt sich nachvollziehen: Die Games vergleichen die Handlungen der Spieler, erstellen Charakterprofile. Das Gimmick könnte für Netflix, Sony und Co. ein weiteres Hintertürchen in die Privatsphäre und Daten seiner Nutzer öffnen.

Eine klug kuratierte Illusion

Auch erzählerisch gibt es Probleme, gerade bei Telltale. Ihre Spiele lassen einen zwar glauben, dass man die Handlung kontrolliert, tatsächlich führen alle Wege zum gleichen Cliffhanger. Die inszenierte Freiheit ist eine klug kuratierte Illusion, die den Spieler emotional involvieren soll, jedoch auch durchschaut werden kann.

Eine komplett offene Erzählung wird es wohl nie geben. Quantic Dreams narrative Labyrinthe nähern sich dieser postmodernen Fantasie aber schon an. In ihrem fünf bis zehnstündigen interaktiven Film „Detroit: Become Human“ steuert der Spieler nicht nur drei aufeinander zustrebende Handlungsstränge, viele Szenen haben mehrere Enden, die den Gesamtverlauf dramatisch verändern. Alle Protagonisten können sterben. Dabei sind es die kleinen Gesten, die großen Eindruck hinterlassen. Die mütterliche Fürsorge einer Hausandroidin zu einem Mädchen, ihre gemeinsame Flucht. Oder das an Buddy-Cop-Filme angelegte Gerangel eines unterkühlten Polizeiandroiden mit seinem menschlichen Partner. Entscheidungen der einen Story greifen in die andere hinein, auf oft überraschende, tragische Weise. Hätte diese Geschichte anders ausgehen können? Die abstrakte Frage wird eine faszinierende durchaus philosophische Erfahrung.

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Schade, dass das bibeldicke Drehbuch der Franzosen dabei zwischen zu vielen Themen changiert. Die kluge Charakterstudie kippt so immer wieder ins überdosierte Melodram. Es wirkt fast, als könne die Erzählung, die einen ständig entscheiden lässt, sich selbst nicht entscheiden, was sie sein will.

„The Walking Dead: The Final Season“ erhältlich für PS4, Xbox One, PC. Preis 20 €.

Giacomo Maihofer

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