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Goethe-Büste im Stadtgarten in Kassel.

© Uwe Zucchi/dpa

Was ist Weltliteratur?: Kosmopoliten in Krähwinkel

Der Begriff Weltliteratur wurde von Goethe geprägt. Aber heute versteht man in aller Welt etwas anderes darunter. Anmerkungen in unruhigen Zeiten.

Von Gregor Dotzauer

Wie wohl war den Deutschen in ihrer hart errungenen Buntheit doch bis vor Kurzem zumute. Sie scheuten das hitzköpfig Nationale und befleißigten sich eines kühlen Verfassungspatriotismus. Sie feierten Shermin Langhoffs postmigrantisches Theater und übten sich in postcolonial studies. Wer auf sich hielt, liebäugelte in postpostkolonialer Absicht sogar bereits mit der Idee eines Weltbürgertums, wie sie der britisch-ghanaische Philosoph Kwame Anthony Appiah in seinem Buch „Der Kosmopolit“ entwickelte. Alle wirklichen Prüfungen schienen weit hinter ihnen zu liegen. Doch sie haben Grund, sich ihre kulturelle Offenheit gerade jetzt nicht ausreden zu lassen.

In der Literatur atmet man geradezu auf, wenn Autoren mit Migrationshintergrund in den Vordergrund treten. Was für den 1985 begründeten Adelbert-von Chamisso-Preis der Bosch-Stiftung anfangs ein mühseliges Geschäft war, hat sich zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt: Sprach- und Kulturwechsler bringen nicht nur neue Themen mit. Im Idealfall operieren sie auch in ungewohnten literaturgeschichtlichen Kontexten, und sie transportieren etwas von ihren Herkunftssprachen in das Deutsche.

Der Deutsche Buchpreis an die im ungarischen Sopron zweisprachig aufgewachsene Terézia Mora und an die Schweizerin Melinda Nadj Abonji, die zur ungarischen Minderheit im heute serbischen Teil Jugoslawiens gehörte; der Bachmann-Preis und der Berliner Literaturpreis an die Russin Olga Martynova; der Leipziger Buchpreis für den zweiten, in der Uckermark angesiedelten Roman des im bosnischen Višegrad groß gewordenen Saša Stanišić – sie alle sind prominente Stimmen eines unaufzählbar vielgestaltigen, rasant wachsenden Reservoirs von Grenzgängern und Luftwurzlern, an deren Seite am Sonntag auch noch der in Siegen zur Welt gekommene deutsch-iranische Friedenspreisträger Navid Kermani seinen großen Auftritt bekommt.

Für einige Augenblicke könnte man glatt den Eindruck gewinnen, Deutschland sei aus dem Krähwinkel der Selbstbespiegelung mit einem Mal ins gleißende Licht einer neuen Internationalität getreten. Warum beschleicht einen dennoch ein mulmiges Gefühl? Über die irrige Hoffnung, dass einen Zuwanderer von der eigenen Provinzialität erlösen könnten, muss man nicht reden.

Sie bleiben den Sprachräumen verhaftet, denen sie entstammen

In diese Kerbe hieb zum 30. Jubiläum des Chamisso-Preises schon Maxim Biller in der „Zeit“ und schlug nebenbei alles kurz und klein, was ihm an der deutschen Nachkriegsliteratur seit jeher aufgestoßen war. Insbesondere beklagte er, sich selbst zum tschechisch-jüdischen Ruhestörer stilisierend, dass die Migranten sich widerstandslos dem Druck eines Systems gebeugt hätten, das nichts als Wohlfühlliteratur mit unterwerfungssüchtigem Onkel-Tom-Gehabe wolle.

Daran stimmte nur, dass zumal die Bücher, die den Lebenswegen der Vorfahren nachspüren und gerne auf Speichern Großmütter- und Großväterbriefe entdecken, längst ihre eigenen Klischees ausgebildet haben – nur eben ganz ohne das Zutun literaturbetrieblicher Zuchtmeister. Sicher gibt es auch eine Art automatischer Begeisterung für eine Hybridfolklore, die nicht weniger dubios ist als der alte Exotismus. Das Unbehagen aber hat andere Quellen.

Es beginnt mit der Zwickmühle, in die man sich bereits mit der Definition des Gegenstands begibt. Mit dem Aufkommen der Xenologie, der kulturwissenschaftlichen Lehre von der Fremdheit, die sich auch die interkulturelle Germanistik zu eigen macht, geht es darum, die Erfahrung eines Anderen zu fassen und zugleich aufzuheben. Das Fremde wird erst ins Auge gefasst und dann als wahrnehmbare Größe ausgeschieden. Wie viel fremdenfeindliche Betonung von Differenz ist schädlich, wie viel Leugnung ist blinde Verbrüderung? Man kann diese Frage auch an die Chamisso-Literatur selbst richten: Wenn sie etwas taugt, warum ihr ein separates Podest errichten? Und wenn sie nichts taugt, wozu eigens auf sie aufmerksam machen?

Schwerer wiegt, dass diese Grenzen überschreitende Literatur, anders als die aus anglophonen Ländern, in den seltensten Fällen über diejenigen der eigenen Sprache hinausgelangt. Die wenigsten deutschen Romane der letzten Jahre – Ausnahmen sind Daniel Kehlmann und der erwähnte Saša Stanišić – sind in größerem Maßstab exportfähig. Sie wären so gern Teil jener neuen, gleichfalls mit kulturellen Hybriderfahrungen um die Welt reisenden Literatur, die hierzulande mit Zadie Smith, Kiran Desai, Teju Cole, Chimamanda Ngozi Adichie oder Taiye Selasi Station macht.

Dazu kommt die bittere Tatsache, dass die Neugier auf unbekannte Literaturen, kleine wie große, die nicht im Dazwischen der Kulturen angesiedelt sind, traurig gering geblieben ist – unabhängig von dem, was man, mit einem strittigen Wort, ihre Universalität nennen könnte. Schließlich gilt es festzuhalten, dass die Theorien, mit denen diese Hybridliteratur erklärt wird, bei allem globalen Anspruch in vielem nur regionale Reichweite haben. Sie bleiben den Sprachräumen verhaftet, denen sie entstammen.

Der Debatte zur Weltliteratur liegt eine französische Perspektive zugrunde

Johann Wolfgang Goethe.
Ein Kosmopolit: Johann Wolfgang Goethe.

© Fredrik von Erichsen/dpa

Vermutlich sind diese Phänomene nicht einmal neu. Johann Wolfgang von Goethe, auf den der Siegeszug des Begriffs Weltliteratur letztlich zurückgeht, war ein Mann von einzigartiger Offenheit, der sich schreibend die persische und die chinesische Dichtung einverleibte und dennoch klare hierarchische Vorstellungen pflegte. „Chinesische, Indische, Ägyptische Alterthümer sind immer nur Curiositäten“, notierte er. „Es ist sehr wohlgethan sich und die Welt damit bekannt zu machen; zu sittlicher und ästhetischer Bildung aber werden sie uns wenig fruchten.“ Seinem Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer riet er in schönster Einigkeit mit dem Sanskrit-Spezialisten Wilhelm von Humboldt deshalb auch: „Verbleiben Sie in den griechischen Regionen, man hat’s nirgends besser; diese Nation hat verstanden aus tausend Rosen ein Fläschchen Rosenöl auszuziehen.“

Goethe konnte zu seiner Zeit allerdings weder die daoistischen Klassiker lesen, noch waren ihm die Frühformen einer globalen kulturellen Befruchtung gegenwärtig, auf denen der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen gegen den Verdacht eines westlichen Kulturimperialismus insistiert. Sens Lieblingsbeispiel ist der heute im British Museum befindliche Druck des buddhistischen Diamant-Sutra, der fast 600 Jahre vor der Gutenberg-Bibel das Buchzeitalter begründete. Der halbtürkische Inder Kumarajiva hatte ihn aus dem Sanskrit ins Chinesische übersetzt und mit chinesischer Technologie gedruckt.

Aber war das schon die anarchisch wuchernde „Tout-Monde“ unserer Zeit, die der karibische Dichter und Kulturtheoretiker Edouard Glissant beschreibt? „Un monde sans axe et sans visée“, eine Welt ohne verlässliche Achse und ausgemachtes Ziel? Im März 2007 erschien in „Le Monde“, mitunterzeichnet von Glissant und dem späteren Nobelpreisträger Le Clézio, unter dem Titel „Pour une littérature-monde en français“ ein Manifest, das sich mit einer folgenreichen Entwicklung der französischen Literatur auseinandersetzt, die sich mit der heute in Berlin lebenden Marie NDiaye und dem afghanischstämmigen Atiq Rahimi fortsetzte. Gleich fünf renommierte Preise waren an Autoren mit außerfranzösischen Wurzeln gegangen.

Keine deutsche Literatur in der Diaspora

Das Manifest hatte eine doppelte Stoßrichtung. Erstens wollte es der Unterscheidung von französischer und frankophoner Literatur den Garaus machen, die sich tatsächlich allein auf Hautfarbe und Staatsbürgerschaft bezieht. Warum gilt der aus Algerien stammende pied-noir Albert Camus als französisch, der aus Haiti stammende Academie-Française-Autor Dany Laferrière dagegen als frankophon? Zweitens, und das war bedenklicher, lehnte es sich gegen das Erbe eines Nouveau Roman auf, das es in seiner Selbstbezüglichkeit als Irrweg beschrieb. Hierzulande kennt man solche Forderungen unter dem Stichwort der „Welthaltigkeit“, hinter der sich leider allzu oft eine naive Vorstellung von Realismus verbirgt.

Man sieht, dass dieser Debatte um die neue Weltliteratur eine zutiefst französische Perspektive zugrunde liegt. Es gibt keine germanophone Literatur in Analogie zur frankophonen Literatur. Ja, es gibt überhaupt keine nennenswerte deutsche Literatur in der Diaspora. Oder besser: Es gibt sie nicht mehr. Die Schriftsteller der rumäniendeutschen Literatur sind fast vollständig in die Bundesrepublik eingewandert. Die ungarndeutsche Literatur konnte sich infolge des Zweiten Weltkriegs überhaupt erst in den siebziger Jahren wieder zaghaft formieren.

Mit Lenka Reinerová starb 2008 die letzte Repräsentantin der Prager Deutschen Literatur, zu der neben Franz Kafka und Max Brod auch Franz Werfel und Gustav Meyrink zählten. Und die russlanddeutsche Literatur in all ihren Spielarten gehört nicht minder der Vergangenheit an. Obendrein ist zu befürchten, dass sie einer höchst fragwürdigen Idee von Heimat huldigt. Sie wird, ihrer derzeitigen Erforschung zum Trotz, in den Bergen des „great unread“, des unermesslich Ungelesenen versinken, das Margaret Cohen gleichwohl zur unverzichtbaren Ressource literaturgeschichtlicher Erkenntnis erklärt. Um die Allgemeingültigkeit der anglophonen Perspektive ist es nicht besser bestellt. Sie ist nur dominant – weshalb Sigrid Löfflers Buch „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“, das einzige aktuelle deutsche Buch zum Thema, einheimische wie frankophone Autoren bloß streift.

Rebecca L. Walkowitz definiert in ihrem jüngsten Buch „Born Translated“ (Columbia University Press) einen Typ von Roman, dem das Bewusstsein seiner Übersetzung (und Übersetzbarkeit!) eingeschrieben ist – bei Joanne K. Rowlings „Harry Potter“ genauso wie bei J. M. Coetzee, dessen „Kindheit Jesu“ zwischen Februar und Dezember 2013 in neun Sprachen auf fünf Kontinenten erschien – übrigens noch vor dem englischsprachigen Original des in Australien lebenden Südafrikaners auf Holländisch.

Walkowitz zeigt, wie beschleunigte Märkte und die Allgegenwart von Übersetzungshilfen die Texte selbst infiltrieren. Sie geht nur allzu leichtfertig damit um, dass ein auf dem Umweg über England und die USA zu Weltruhm gelangter Schriftsteller wie W. G. Sebald seine Romane in ein Stiftersches Deutsch eingravierte. Dessen verquere Langsamkeit können seine Übersetzer auch beim besten Willen nicht angemessen wiedergeben.

Was wächst den Deutschen zu? Anders als an den Pidgin-Rändern des Englischen spricht nichts dafür, dass Ethnolekte wie das Kiezdeutsch literarisch produktiv werden. Die Effekte der sogenannten Kreolisierung zeigen sich nur in der Alltagssprache. Es könnte aber sein, dass die Zuwanderer die Neugierde der hier Aufgewachsenen anstacheln. Mit der Entschlossenheit eines Reporters ans andere Ende der Welt aufzubrechen, ist eines. Sich vom eigenen Imaginationsvermögen befremden zu lassen, wie es der Österreicher Thomas Stangl in seinem Timbuktu-Roman „Der einzige Ort“ tut oder Michael Roes in seinen ethnografischen Prosaexpeditionen in die algerische und jemenitische Welt, ist etwas anderes. Wenn man dabei die Erfahrung macht, dass Literatur selbst etwas Fremdartiges sein kann, ist das nicht das Schlechteste.

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