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Die Lage verbessern. Auch dieses kleine Mädchen protestiert in Ferguson gegen die Erschießung von Michael Brown.

© Joshua Lott/AFP

Was Ferguson über die US-Gesellschaft lehrt: Amerikas größte Hürde

Ökonomische Benachteiligung führte zu den Krawallen in Ferguson. Martin Luther Kings letzte Forderung nach wirtschaftlicher Emanzipation der Afroamerikaner bleibt bis heute unerfüllt.

Am 4. November 2008 hatte Amerika den Rassismus besiegt. Die Bürger wählten einen Afroamerikaner zu ihrem Präsidenten. Seine Hautfarbe war kein Nachteil. Die Zahl der Menschen, die deshalb für ihn stimmten, war größer als die Zahl derer, die sich deshalb gegen ihn entschieden; das ist wahlsoziologisch belegt. Amerika, hieß es, sei nun eine „post-racial society“: eine Gesellschaft, die den Rassenkonflikt überwunden hat.

Der August 2014 hat diese Hoffnung widerlegt. Ferguson, Missouri, erlebt tagelange Straßenkrawalle, nachdem ein weißer Polizist einen unbewaffneten schwarzen Teenager, Michael Brown, erschossen hat. Nun hört man in Deutschland, so sei eben das wahre Amerika. Rassismus und weiße Polizeigewalt gegen schwarze Jugendliche seien dort allgegenwärtig, auch unter einem schwarzen Präsidenten. Weder Barack Obama noch die jahrzehntelangen gezielten Förderprogramme nach der Devise „Affirmative Action“ hätten zählbare Erfolge.

Beide Interpretationen sind übertrieben. Sie haben auch mit den jeweiligen nationalen Stereotypen zu tun, dem zur Idealisierung neigenden Blick der Amerikaner auf ihre Gesellschaft und der Irritation der Deutschen über manche Aspekte des amerikanischen Alltags, die ihnen unverständlich erscheinen, darunter der Waffenkult, die in ihren Augen martialische Ausrüstung der Polizei und deren kompromissloses Auftreten.

Rund 400 Mal im Jahr töten Polizisten im Dienst

Tödliche Schüsse aus Polizeiwaffen gibt es in den USA häufig. Rund 400 Mal im Jahr töten Polizisten im Dienst. Wie viele schwarze Jugendliche darunter sind, ist nicht erfasst. Rassenkrawalle lösen diese Vorfälle nur sehr selten aus. Meist liegen viele Jahre zwischen solchen Gewaltausbrüchen: 1980 in Miami, 1992 in Los Angeles, 2001 in Cincinnati, 2014 in Ferguson. Typischer sind Reaktionen wie die auf den Tod Trayvon Martins vor zwei Jahren in Florida. Ein hellhäutiger Nachbarschaftswächter hatte den unbewaffneten schwarzen Jugendlichen erschossen. Die Betroffenheit im In- und Ausland war ähnlich wie jetzt bei Michael Brown. Amerika reagierte mit landesweiter Trauer und friedlichen Protesten, nicht mit Gewalt. Unruhen wie in Ferguson sind die Ausnahme, nicht die Regel.

Ob Miami 1980, Los Angeles 1992, Cincinnati 2001 oder jetzt Ferguson: Die Ursache sind brutale ökonomische Konflikte, teils zwischen Rassen, teils innerhalb einer Rasse. Zuvor war jeweils die soziale Kluft gewachsen, weil die einen Anteil am Aufschwung hatten, die anderen nicht. Oder weil die einen stärker als die anderen von Abstieg bedroht waren. Ferguson explodiert unter den Folgen der schweren Wirtschaftskrise. Diese Krise hat vielerorts in Amerika zugeschlagen, aber selten so dramatisch wie in der Vorstadt von St. Louis. Sie ist ein Beispiel für die extremen Auswirkungen des amerikanischen Wirtschaftsmodells von „Boom and Bust“: des raschen Auf- oder Abschwungs. In guten Zeiten verdanken die USA ihm ein dynamischeres Wachstum, als Europäer es kennen; zur Kehrseite gehört ein rasanter sozialer und ökonomischer Abstieg, wie ihn Ferguson in unerträglich kurzer Zeit durchlitten hat.

Vor wenigen Jahren bestand die Bevölkerung noch zu zwei Dritteln aus weißer Mittelschicht. Heute ist die Einwohnerschaft zu zwei Dritteln schwarz. Das Durchschnittseinkommen ist um ein Drittel gesunken. Ein Viertel lebt unterhalb der Armutsgrenze. Vor der Krise lag die Arbeitslosenrate bei fünf Prozent, heute bei 13 Prozent. Weiße zogen weg auf der Suche nach neuen Jobs, zurück blieben weniger mobile Schwarze. Die Hauspreise stürzten ab. Dank des Preisverfalls konnten Afroamerikaner mit moderatem Einkommen zuziehen. Aber auch ihnen fehlten bald die Arbeitseinkommen, aus denen sie die Hauspreise und Mieten, die vermeintlich auf ein für sie erschwingliches Niveau gesunken waren, finanzieren wollten. Die Zahl der Wohngeldbezieher hat sich verdreifacht.

Weiße bekleiden fast alle politischen Ämter in Ferguson

Eines änderte sich trotz des Bevölkerungswandels nicht: die Verteilung der politischen Macht. Fast alle Wahlämter in Ferguson blieben in der Hand der Weißen. Das gilt für den Bürgermeister und die meisten Stadträte, den Polizeichef und den Oberstaatsanwalt, der entscheidet, ob gegen den Todesschützen, einen weißen Polizisten, Anklage erhoben wird. Man kann das den Weißen schlecht vorwerfen. Es hat damit zu tun, wer sich politisch engagiert und wer nicht. Weiße gehen in höherer Zahl zur Wahl als Schwarze. Sie sind zudem besser organisiert. Dieses Missverhältnis hat in Ferguson zur zornigen Eruption beigetragen.

Und ebenso das amerikanische Verwaltungsmodell, das auf Wettbewerb setzt. Die Vertreter der Kommune, des Staats Missouri und der Bundesregierung handeln nicht unbedingt koordiniert. Jeder will sich profilieren, um wiedergewählt zu werden. So lief einer der Deeskalationsversuche ins Leere: die Ernennung eines schwarzen Einsatzleiters der lokalen Polizei. Er fühlte sich in seiner Strategie vom Gouverneur konterkariert.

Und welche Rolle spielt Rassismus? Es gibt ihn, aber er ist nicht größer als in Deutschland oder Frankreich. Amerikaner stellen zudem diese offensive Frage: Was könnten – und müssten – Afroamerikaner selbst tun, um ihre Lage zu verbessern? Da klingt der unterschwellige Vorwurf mit, die Schwarzen seien ein bisschen selbst schuld. Einerseits ist offenkundig: Benachteiligung und Segregation gibt es auch heute in Amerika; Afroamerikaner haben nicht dieselben Chancen zu sozialem Aufstieg wie Weiße.

Latinos und Asiaten gelingt der soziale Aufstieg besser

Andererseits geht es Latinos und Asiaten da nicht viel besser; doch sie sind erfolgreicher. Gegen eine entscheidende Rolle der Hautfarbe spricht: Schwarzen Immigranten, die aus Afrika einwandern, gelingen Aufstieg und Integration besser als den in Amerika geborenen Schwarzen. Soziologen erklären das so: Schwarze Kinder, die in den USA aufwachsen, lernen von der Umgebung, sich als Opfer zu sehen, das kaum Chancen habe. Schwarze Einwanderer tun das nicht; sie glauben an ihre Chance im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der jeweilige Glaube werde zur „self-fulfilling prophecy“.

„Affirmative Action“ und der erste afroamerikanische Präsident sind nicht wirkungslos. Obama ist der wandelnde Beweis, dass Aufstieg bis an die Spitze möglich ist. Das macht manchen Mut. Dank der Förderprogramme ist eine schwarze Mittelschicht entstanden. Afroamerikaner leiten bedeutende Unternehmen.

Auch bei der Waffengewalt hat sich manches geändert. Die Zahl der Morde und Totschläge in den USA hat sich in den vergangenen 25 Jahren halbiert. Freilich ist das Risiko schwarzer Jugendlicher, Opfer zu werden, ungleich größer. Es liegt 14-mal so hoch wie das weißer Jugendlicher. Dass Weiße auf sie schießen, ob Polizist oder nicht, ist freilich die Ausnahme. In 94 Prozent der Fälle sind es Schwarze, die Schwarze erschießen.

Martin Luther King, die Galionsfigur der Bewegung, die die bürgerliche Gleichberechtigung der Afroamerikaner durchsetzte, hatte in den Jahren vor seiner Ermordung gepredigt, die ökonomische Emanzipation sei die nächste große Hürde. Das gilt bis heute.

Fortschritte für Afroamerikaner gibt es durchaus, jedoch für zu wenige. Der Weg zu Chancengleichheit und Selbstverantwortung dauert länger als erhofft. Vor allem die wirtschaftliche Emanzipation hinkt hinterher. Die Gewalt in Ferguson ist eine Mahnung. Amerikas schwarze Bürger brauchen weiterhin doppelte Unterstützung: Fördern und Fordern.

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