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Janáceks „Die Sache Makropulos“ wurde mit Evelyn Herlitzius (Mitte) in der Titelrolle in Berlin zuletzt 2016 von David Hermann an der Deutschen Oper inszeniert. Foto: DOB/Bernd Uhlig

© Bernd Uhlig/Deutsche Oper

Was die Opernhäuser spielen sollten: Wer Ohren hat, der höre

Mit seinem Buch „Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken“ feiert Bernd Feuchtner die Vielfalt des Musiktheaters.

Im Theaterjargon werden sie die ABC-Waffen genannt: „Aida“, „Bohème“ und „Carmen“ sind drei Opern, die garantiert für volle Häuser sorgen. Das Publikum liebt den Wiedererkennungseffekt – und die Intendantinnen und Intendanten setzen diese Meisterwerke darum mit schöner Regelmäßigkeit auf die Spielpläne.

Zusammen mit einem kleinen Häuflein weiterer Klassiker. Die zehn am häufigsten gespielten Komponisten nehmen im deutschsprachigen Raum über 80 Prozent des Spielplans in Beschlag, rechnet Bernd Feuchtner in seinem Buch „Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken“ vor.

Dabei wurden mehr als 10 000 Opern zwischen 1901 und 2000 komponiert, betont der Autor, der viele Jahre Redakteur im Feuilleton des Tagesspiegels war, bevor er in die Praxis wechselte und an verschiedenen Bühnen als Operndirektor sowie Chefdramaturg wirkte. Wer sich für das Musiktheater des vergangenen Jahrhunderts öffne, schwärmt er, dem „entrollt sich ein überreiches Opernschaffen mit einer unglaublichen Bandbreite an Formen und Farben, Temperamenten und Stimmungen, Geschichten und Fantasien“.

Diese Vielfalt feiert Feuchtner auf 688 Seiten (Wolke Verlag, 39,80 Euro) – und er tut das mit einer Leidenschaft und Eloquenz, die beim Lesen sofort die Lust weckt, möglichst viele der Werke auf einer Bühne zu erleben. Was derzeit natürlich nicht geht – immerhin ermöglichen es Streamingdienste und Plattformen wie Youtube dem neugierig Gewordenen, sich zumindest schon einmal einen akustischen Eindruck zu machen.

Atonale Werke machen nur einen Bruchteil aus

Von Hans Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“ beispielsweise, einer 1901 uraufgeführten Jugendstiloper, die Feuchtner als musikalisches Pendant zu Gustav Klimts Gemälden beschreibt. Oder von der 1902 vollendeten König-Artus-Oper „Merlin“ des Katalanen Isaac Albéniz, deren stilistisch schillernde Partitur sowohl von Wagner wie auch von russischer und französischer Musik der Entstehungszeit geprägt ist.

Das sind beides wahrlich keine Avantgarde-Schocker. Die von den Besuchern so gefürchteten zwölftönigen oder atonalen Werke machen nur einen Bruchteil der Jahrhundertproduktion aus, wie Feuchtner zeigt. Giacomo Puccini und Richard Strauss haben einen Großteil ihrer Opern im 20. Jahrhundert herausgebracht, und auch Komponisten wie Benjamin Britten, Dmitri Schostakowitsch oder Leoš Janácek haben nie komplett mit dem tonalen System gebrochen.

Das Musiktheater, das Bernd Feuchtner schätzt, ist eines, das die Zuhörerinnen und Zuhörer emotional erreichen will – mit allen nur erdenklichen Mitteln. Als ebenso „schneidend und schmerzhaft“ wie „voller düsterer, lauernder und leise weinender Laute“ beschreibt er den Klangraum, den Aribert Reimanns in seinem „Lear“ von 1978 schafft. Aber eben auch als absolut angemessen für Shakespeares Drama, dem der Komponist mit seiner Musik eine weitere, „atemberaubende“ Dimension hinzugefügt hat.

Ganz anders Georg Katzers „Das Land Bum-Bum“, uraufgeführt im selben Jahr, aber in einem anderen Land: in der DDR nämlich, wo das hellhörige Publikum die Handlung von dem König, der meint, lustige Lieder seien schädlich für die Bevölkerung, sofort als Verballhornung des eigenen Regimes dechiffrierte.

Ungeahnte Klänge zu entdecken

Weit und offen ist der Horizont, den Feuchtner aufreißt, weil er Komponisten – und auch sechs Komponistinnen – aus der ganzen Welt in den Blick nimmt, an unumstrittene, aber kaum noch gespielte Meister wie Aaron Copland, Isang Yun und Hans Werner Henze erinnert und auf Namen wie Jean Cras, Ján Cikker, Alexander Goehr oder Daniel Catán hinweist, die selbst unter Fachleuten als obskur gelten.

Und er spart nicht mit Superlativen. Peter Maxwell Davies, schreibt er, „hat den Plot so perfekt konstruiert und die Musik so wirkungsvoll gestaltet“, dass eine Aufführung seines Drei-Personen-Psychothrillers „The Lighthouse“ von 1980 „gar nicht misslingen kann“.

Grandios findet Feuchtner auch Helmut Lachenmanns 1997 herausgekommenes „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, in der die Orchestermusiker ihre Instrumente auf jede erdenkliche, nur nicht auf die traditionelle Weise nutzen und Andersens Märchentext „so fragmentiert und in Klang verwandelt“ wird, dass er nicht mehr zu verstehen ist: „Wer aber die Ohren aufmacht, wird belohnt mit einer Fülle ungeahnter Klänge und einer Erzählung voller auch emotionaler Tiefe.“ Jeder, der die Inszenierung des Werks 2012 an der Deutschen Oper erlebt hat, kann dies bestätigen.

Das Regietheater entstand durch die Repertoireverengung

Das von Traditionalisten wenig geschätzte Regietheater übrigens, meint Feuchtner, sei letztlich nur deshalb entstanden, weil sich das Opernrepertoire über die Zeit immer mehr verengt habe. Wer stets dieselben Stücke neu deuten soll, verfällt eben auf die abstrusesten Ideen. Als Gegenbeispiel führt er die Musik des Barock an, die seit einigen Jahrzehnten von Enthusiasten systematisch neu erschlossen wird und überall das Publikum begeistert. Die Opern von Händel, Rameau und Co. haben sich mittlerweile ihren festen Platz in der Saisonplanung der Bühnen zurückerobert.

Sein flamboyantes Vorwort beschließt Bernd Feuchtner mit einem Satz, der deutlich macht, dass wahrlich keine Revolution nötig ist, um auch im Bereich der Oper des 20. Jahrhunderts in der einmalig dichten zentraleuropäischen Bühnenlandschaft für jene Vielfalt zu sorgen, von der er träumt: „Wenn jedes der beinahe 100 Opernhäuser im deutschsprachigen Raum nur eines der hier versammelten Werke aufführt, wären sie alle in einer einzigen Spielzeit wieder lebendig.“

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