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Ihm wird vorgeworfen, eine minderjährige Schauspielerin sexuell belästigt zu haben. Christophe Ruggia, hier 2015.

© François Guillot/ AFP

Warum ist niemand eingeschritten?: Das französische Kulturestablishment steht auf dem Prüfstand

Frankreich entdeckt plötzlich, dass Pädophilie lange Zeit am helllichten Tag stattfand und von allen geduldet wurde. Wie konnte das passieren?

Pädophile handeln im Verborgenen, im Schutz von Sakristeien, Umkleidekabinen von Sportvereinen oder Kinderzimmern. So zumindest dachten wir, bis zwei Frauen es wagten, ihr Schweigen zu brechen. Nun entdeckt Frankreich plötzlich, dass Pädophilie lange Zeit am helllichten Tag stattfand und von allen geduldet wurde. Viel schlimmer: Sie war ein unterhaltsamer sexueller Kick für Herren reifen Alters auf der Suche nach kreativer Inspiration.

Die Schauspielerin Adèle Haenel, bekannt aus dem Film „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, beschuldigt in einem Interview den Regisseur Christophe Ruggia. Sie war damals zwischen zwölf und 15 Jahre alt, er über 35. Er hatte dem Mädchen ihre erste Filmrolle angeboten. Das Filmteam hat alles mit angesehen, sagt Adèle Haenel: die Küsse in den Nacken, die Berührungen, die permanente sexuelle Belästigung. Hat alles mit angesehen, aber nie etwas gesagt.

Die Verlegerin Vanessa Springora beschuldigt in ihrem Buch den Schriftsteller Gabriel Matzneff. Mitte der 80er Jahre war sie 13, 14 Jahre alt, er 50. Matzneff hatte es nicht nötig, sich zu versteckten. Im Gegenteil, er verkehrte in der mondänen Pariser Gesellschaft offen in Begleitung seiner jungen Geliebten.

In mehreren seiner Bücher beschreibt er ausführlich, wie er Kinder, Mädchen und Jungen, „mit kleinen Hintern wie Äpfel“ sodomisiert und prahlt mit seinen noch jungfräulichen Eroberungen. Bei der legendären literarischen Sendung „Apostrophes“ erklärte er den anderen höchst amüsierten Gästen, dass ihm ganz junge Mädchen am liebsten seien, „die noch nicht vom Leben abgehärtet sind“.

Einzig die Quebecer Schriftstellerin Denise Bombardier widersprach. „Ich komme wohl von einem anderen Planeten“, unterbrach sie ihn. „In Kanada ist Pädophilie gesetzlich strafbar.“ Genau wie in Frankreich, auch damals schon. Aber offensichtlich kam das Gesetz in den 80er Jahren nicht zur Anwendung.

Wie war ungestrafter Missbrauch möglich?

Die Frage, die sich heute jeder stellt, ist: Wie ist es möglich, dass ein solcher Missbrauch ungestraft und unter den gleichgültigen, ja sogar zustimmenden Blicken der Öffentlichkeit stattfinden konnte? Warum reagierte niemand?

Die Eltern der betroffenen Mädchen, die Justiz, renommierte Ärzte, die Filmwelt, die Pariser Literaturszene – warum ist niemand eingeschritten? Ist es nicht ein wenig zu einfach, heute so zu tun, als wäre es eben eine andere Zeit gewesen, eine übertriebene Interpretation des „hemmungslosen Genießens“ der 68er? War die sexuelle Freizügigkeit in Frankreich größer als anderswo?

MeToo hat die Gesellschaft erschüttert

Inzwischen hat MeToo die Gesellschaft erschüttert. Aus beeindruckbaren Mädchen sind einflussreiche Frauen geworden. Vanessa Springora ist Verlegerin eines großen Verlagshauses. Adèle Haenel ist eine berühmte Schauspielerin, berühmter als ihr damaliger Belästiger. Diese Frauen haben keine Angst mehr. Und sie schämen sich nicht.

Nun steht das französische Kulturestablishment auf dem Prüfstand. Bernard Pivot, der Moderator von „Apostrophes“, hat sich entschuldigt. Antoine Gallimard, der Papst des französischen Verlagswesens, hat Matzneffs Tagebücher aus dem Verkehr gezogen. Es ist die Rede davon, dem heute mittellosen 83-jährigen Schriftsteller die staatlichen Zuschüsse zu streichen. Gegen den Regisseur wird ermittelt. Plötzlich sehen alle, was in einer anderen Zeit keiner sehen konnte oder sehen wollte.

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