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Antisemitsmus von rechts: Ein durchgestrichener Davidstern und ein Hakenkreuz an einer Gedenkstätte am Berliner Nordbahnhof.

© Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Warum Antisemitismus?: Es geht immer weiter

Die Vortragsreihe „Antisemitismus – Woher, Weshalb, Wohin“ beschäftigt sich mit rechtsradikalem Judenhass - und Volker Beck erzählt, wie er von Attila Hildmann bedroht wurde.

Wie sehr die rasante Geschwindigkeit des digitalen Zeitalters mit seiner sofortigen Klick&Like-Belohnstruktur die Turboradikalisierung Einzelner begünstigt, hat der Fall Attila Hildmann gezeigt. Dieser legte 2020 die kürzestmögliche Wegstrecke vom veganen Koch zum Verschwörungsideologen, Judenhasser und Holocaustleugner hin, bevor er dieses Frühjahr in die Türkei flüchtete. Wie sich das konkret anfühlt, wenn man zur Zielscheibe solchen Hasses wird, hat Grünenpolitiker Volker Beck am Montagabend in der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße geschildert.

Hildmann drohte in nur vordergründig durch Konjunktiv abgemilderten Reden, wenn er Reichskanzler wäre, dann würde er die Todesstrafe für Volker Beck wieder einführen, indem man ihm die Eier zertrete auf einem öffentlichen Platz. Jeden Handwerker vor seinem Haus habe er danach als Bedrohung wahrgenommen, sagte Beck, der Anfeindungen wahrlich gewohnt ist. Ein junger Besucher mit Kippa geht zum Mikrofon und sagt: „Das bringt es auf den Punkt. Genau mit diesem Gefühl, das Sie bei dem Handwerker empfunden haben, leben Juden in Deutschland, die sich zu erkennen geben, immer noch. Bis heute.“

Hildmann ist nur ein besonders grelles Beispiel

„Antisemitismus – Woher, Weshalb, Wohin“ heißt die von Lea Rosh und dem Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas initiierte Vortragsreihe, die am Freitag mit einer Analyse von Julius H. Schoeps zu antisemitischen Bildern wie der „Judensau“ an mittelalterlichen Kathedralen begann. Nach dem christlichen steht nun der rechtsradikale und rassistische Antisemitismus im Fokus, für den Hildmann nur ein besonders grelles Beispiel ist. Volker Beck – der sich viel für für die Rechte von Schwulen und Lesben und für die deutsch-israelische Freundschaft eingesetzt hat und nach mehreren Jahren im Bundestag aktuell einen Lehrauftrag in Bochum hat – ist an diesem Abend fürs Anschauliche zuständig. Trotzdem ist er noch ganz Politiker, kritisiert die Langsamkeit der deutschen Staatsanwaltschaft, die Hildmann habe entkommen lassen, und den mangelnden Opferschutz in Deutschland: „Es kann nicht sein, dass man jemanden wegen Hetze anzeigt und dann nicht verhindern kann, dass die eigene Adresse in den Ermittlungsakten landet.“

[Am 23. August spricht Richard Herzinger über kommunistischen und linken Antisemitismus, Anmeldung: dialog@jg-berlin.org]

Zwei Professoren heben das Thema anschließend auf eine abstraktere Ebene. Oliver Decker ist Sozialpsychologe und Mitautor der Leipziger Autoritarismus- Studie, die alle zwei Jahre rechte und antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung untersucht. Ein Anstieg solchen Denkens konnte etwa im Zuge der Finanzkrise ab 2010 beobachtet werden. Die Autoren operieren mit zwei interessanten Kategorien, dem israelbezogenen Antisemitismus, der in rechten Kreisen häufig als „Scharnierideologie“ und „Code“ eingesetzt werde, um Juden nicht direkt erwähnen zu müssen, und dem Schuldabwehrantisemitismus. Beide Phänomene entstanden logischerweise erst nach 1945. „Antisemitismus als latente Aufstandsbereitschaft gegen Modernität ist eine dunkle Ressource in unserer Gesellschaft, jederzeit abrufbereit“, resümiert Decker.

Annalena Baerbock als Mose

Der Potsdamer Politikwissenschaftler Gideon Botsch illustriert das mit einer umstrittenen Anzeige der stahlindustrienahen „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), die ganzseitig in mehreren großen Tageszeitungen (auch im Tagesspiegel) erschienen ist. Sie zeigt Annalena Baerbock in an Mose erinnernder Haltung mit Gesetzestafeln, dazu der Satz „Wir brauchen keine Staatsreligion“. „Ich bin nicht der Einzige, der das für antisemitisch gehalten hat“, erklärt Botsch, bevor er die Ausprägungen des rechten Antisemitismus in NSU, AfD oder Antaios-Verlag vorstellt. Ein großes Problem sieht er darin, dass rechtsextremer Antisemitismus in der Forschung seit 20 Jahren marginalisiert werde: „Er gilt als so selbstverständlich, dass man seine Dynamik nicht mehr wahrnimmt.“

Am stärksten in Erinnerung bleibt ein Satz von Franz Michalski, der sich als Kind vor der Gestapo verstecken musste und dessen Enkel heute immer noch in der Schule als Jude angefeindet wird. „Das geht immer weiter, immer weiter“, sagt er in einem kurzen Film. Für ihre Anzeige entschuldigt sich die INSM, hält sie aber auf ihrer Webseite weiterhin zum Download bereit.

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