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Kultur: Wannsee 1942

... und Ungarn 1944: György Konráds Mahnrede.

György Konrád ist sechs Jahre alt, als er erstmals von der „Ausrottung der Juden“ hört, im Radio, es ist die sich überschlagende Stimme von Adolf Hitler. Der Zweite Weltkrieg hat gerade angefangen, ein paar Jahre später, im Frühjahr 1944, werden Konrád, seine Schwester und die Eltern aus ihrem Heimatort Berettyóújfalu vertrieben, die Eltern in ein Arbeitslager, die Kinder nach Budapest. Nach drei Jahren kehren sie zurück, als einzige jüdische Familie. Von den tausend Juden in der 14 000 Einwohner zählenden Stadt ist am Kriegsende nur noch ein Drittel am Leben, vor allem jüngere Männer, die in der ungarischen Armee Arbeitsdienst geleistet hatten.

„Seit meinem zwölften Lebensjahr weiß ich, was das später gebräuchliche Wort Holocaust bedeutet“, so der ungarische Schriftsteller in seiner Rede zur Erinnerung an die Wannsee-Konferenz vor 70 Jahren. Konrád liest am Donnerstagabend in der Akademie der Künste am Hansaplatz, deren Präsident er einmal war, er liest nur die erste Seite, dann übergibt er den weiteren Vortrag an Hanns Zischler. „Vom Wort zur Tat. Das Schicksal meiner Kleinstadt im Zweiten Weltkrieg“ lautet der Titel, es ist ergreifend und persönlich: Konrád schildert das eigene Schicksal, das der Familie, der Nachbarn, seines Heimatorts.

Konrád versucht, „das Unvorstellbare“ zu verstehen. Er macht sich Gedanken über die „psychische Krankheit der Gleichgültigkeit“, an der Deutschland und auch Europa gelitten haben müssen, anders ist der Genozid nicht vorstellbar. Darüber wie sich „nüchtern denkende Menschen diesen Wahnsinn zu eigen gemacht haben“. Konrád erzählt, wie es den Seinen nach 1945 erging, wie sich die Kommunisten in „ihrer Bürger- und Bankiersfeindlichkeit“ mit den faschistischen ungarischen Pfeilkreuzern verstanden. Erst kürzlich hat er in einem zornigen Text in der „FAZ“ mit der „RamschRegierung“ und dem „Ramsch- Ministerpräsidenten“ Ungarns abgerechnet, jetzt zieht er Parallelen: „Der neue Antisemitismus, der sich mit dem Neofaschismus verbreitet, speist sich aus Antikapitalismus und Antikommunismus. Linker und rechter Radikalismus können sich darin zusammenschließen.“ Auch heute gebe es „die Sehnsucht von Gemeinschaften, doch endlich unter sich zu bleiben“.

Konráds Rede ist eine wider das Vergessen und wider die Annahme, der Holocaust sei ein einmaliger Betriebsunfall gewesen. Ein unmissverständlicher Appell an jeden Einzelnen, die richtige Wahl zu treffen zwischen Gleichgültigkeit und Hass auf der einen, Liebe und Empathie auf der anderen Seite. Gerrit Bartels

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