zum Hauptinhalt
Regale, die die Welt bedeuten. Wer sie vollschreiben darf, wird zunehmend hinterfragt.

© Alexander Rüsche/dpa

#vorschauenzählen: Alles, was zählt

Hier Kampf um Diskurshoheit, dort produktive Koexistenz: Wie ein feministischer Hashtag in der Literaturwelt debattiert wird.

Der Hanser Verlag in München hat bei seinen Planungen für das Frühjahr nicht übermäßig viel Wert darauf gelegt, dass das literarische Programm auch gendergerecht ist, also die neuen Bücher ausgewogen von Frauen und Männern stammen. Nur jedes vierte bis fünfte Buch im Hanser-Hauptprogramm hat eine Frau geschrieben, 22 Prozent beträgt der weibliche Anteil.

Nicht viel anders sieht das bei anderen einschlägig literarischen Verlagen aus. Diogenes kommt auf 25 Prozent Autorinnenanteil, S. Fischer auf 27 Prozent, Rowohlt auf 29 Prozent oder Kiepenheuer & Witsch auf 33 Prozent.

Je unterhaltsamer, desto weiblicher

Ausgerechnet und ausgezählt haben das Ende des vergangenen Jahres die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Berit Glanz und die Literaturbloggerin Nicole Seifert und zwar unter dem Hashtag #vorschauenzählen auf Twitter. Ihr auf „Spiegel.de“ veröffentlichtes Resümee lautet, auch vor dem Hintergrund, dass Frauen insbesondere viel weniger politische Bücher und Sachbücher als Männer schreiben und zumeist in den auf Unterhaltungsliteratur spezialisierten Verlagen wie Diana oder Wunderlich dominieren: „Je höher das literarische Prestige eines Verlags, desto mehr scheint er auf Männer im Programm zu setzen.“ Und: „Je ernsthafter es zugeht, desto männlicher; je unterhaltsamer es wird, desto weiblicher.“

Bei Hanser überwiegen in diesem Frühjahr Titel von Frauen

Diese nüchterne Zählerei mag auf den ersten Blick spießig und kleinkariert sein. Die Verlage argumentieren gern, dass sie Bücher verlegen und keine Geschlechter; dass es ihnen um literarische Qualität geht und nicht darum, ob jetzt aus Gründen der Gendergerechtigkeit noch zwei oder drei Bücher von Frauen mit ins Programm sollen. Und es geht ja auch anders: Bei Hanser in Berlin beispielsweise überwiegen in diesem Frühjahr Titel von Frauen, und es mögen nicht nur gelungene Bücher darunter sein.

Andererseits sprechen die schnöden Zahlen ihre eigene Sprache. Das Vorschauenzählen gibt es schon einige Zeit, es wurde aber noch nicht mit der Konsequenz wie jetzt von Glanz und Seifert betrieben. Nun zeigen sich jedenfalls Auswirkungen. Im Frühjahrsprogramm von Rowohlt stammen drei der vier Spitzentitel der verschiedenen Rowohlt-Verlage von Frauen. Das ist insofern bemerkenswert, weil das vorige Herbst- und Winterprogramm des Verlags ein reines Herrenprogramm war: 20 Bücher stammten von Männern, zwei von Frauen. Das kam selbst in Genderfragen eher unsensiblen Naturen komisch vor.

Kritik von der "Literarischen Welt"

Das Vorschauenzählen sorgt natürlich für Debatten und mal mehr, oft auch weniger Begeisterung. Die Leiterin von Springers „Literarischer Welt“, Mara Delius, wagte Anfang des Jahres, das alles nicht so großartig zu finden und fragte, wo eigentlich die Kritik an den unausgewogenen Verlagsprogrammen herkomme? Wer in diesem Fall die moralische Richterposition eingenommen habe und wieso, und ja, „bei wem wer wie wegen welcher Unausgewogenheit“ nun kritisiert worden sei? Alles heiße Luft also, ließe sich spontan dagegen fragen?

Delius feierte dann in einer seltsam argumentativen Parallelaktion „die Frauen des Frühlings“ und zählte selbst sehr viele auf. Das wirkte, als wolle sie dokumentieren, wie übertrieben das alles mit der Zählerei sei. Was wollen die bloß alle? Außerdem, schloss die „Welt“-Literaturkritikerin kryptisch, müsse man doch sehen „welche Frauen welche Bücher schreiben“.

Printfeuilleton versus Soziale Medien

Ein paar Tage später kam die Antwort auf die Frage, wer hier mit dem Zählen eigentlich wen kritisiere. Der bei Facebook und Twitter ungemein aktive Bonner Literaturwissenschaftler Johannes Franzen konkretisierte in dem Literaturblog „54Books“, wen Delius sich als moralischen Richter in der Genderfrage aufspielen sah: die sozialen Medien. Die würden, so interpretiert Franzen, für Mara Delius bloß „eine amorphe Masse“ ohne Autoritätsauftrag sein: „Diese argumentative Strategie entspricht einer aktuellen Tendenz in der feuilletonistischen Praxis, das anarchische und nicht legitimierte wilde Internet gegen die aufgeklärte absolutistische Ordnung am Hof des Printfeuilletons auszuspielen – als wären diejenigen, die sich auf Twitter zu diesen Themen äußern, nicht die Kolleg*innen selbst.“

Schon in der Handke-Debatte zeigte sich diese Opposition

Und da war er wieder, der Frontverlauf, der schon die Handke-Literaturnobelpreis-Debatte mitbestimmt hatte. Auf der einen Seite das Feuilleton, vor allem, wenn nicht ausschließlich die Kulturredaktionen der Printmedien; auf der anderen Seite die sozialen Medien im Internet, allen voran Twitter.

Eine gezielte politische Strategie hat Franzen beim „Welt“-Feuilleton ausgemacht. Er unterstellt Delius, sie wolle „legitime Anliegen aus dem literarischen Diskurs ausschließen“, und begreift ihre „Frauen-des-Frühlings“ als gar nicht mal so subtilen Angriff auf sozusagen das „Twitter-Feuilleton“, dem Glanz und Seifert angehören.

Die Übergänge sind fließender geworden

Das ist viel Ehre für das Feuilleton der alten Ordnung, wenn man es so nennen will. Dieses scheint immer noch so viel Macht zu besitzen, dass die Verfechter der sozialen Medien, die Twitter-Literatur-Bubble sich so vehement daran abarbeiten. Es ist ein Kampf um Diskurshoheit, der insofern verwundert, als dass die Übergänge immer fließender geworden sind, die Grenzen, wenn es sie so hochsicherheitstraktmäßig überhaupt je gab, viel durchlässiger.

Das Feuilleton ist in den sozialen Medien eben nicht nur bei Facebook, wo es keine Textbegrenzungen gibt, sondern auch verstärkt beim 280-Zeichen-Dienst Twitter aktiv. Seltsam mutete da tatsächlich der eine oder andere, in der Regel platt zuspitzende, von genauerer Kenntnis des Mediums ferne Twitter-Hieb aus eben jenem Feuilleton während der Handke-Debatte an, von „Gerüchtesystem“ über „Atmosphäre der Intellektuellenfeindlichkeit“ und „süffisanten Häppchen“ bis zu „tagespolitischer Tweetsprache“. Als gäbe es bei Twitter nur Trolls und Trumps, keinen literarischen Austausch, keine Threads, keine weiterführenden Links, keine Accounts mit außerordentlicher intellektueller Substanz, als würden bei Twitter nur Handke-Feinde und Handke-Ahnungslose ihr Unwesen treiben.

Das Feuilleton findet Themen und Autorinnen auf Twitter

Überdies ist das Feuilleton – das der Printmedien – zumindest ein Teil davon, nicht nur aus Spaß und Zeitvertreib auf Twitter unterwegs, sondern findet hier gleichermaßen Stoff wie Autorinnen oder Autoren. Die ihrerseits nichts dagegen haben, in den etablierten Medien Texte zu veröffentlichen (oder sich vom Feuilleton inspirieren oder halt aufregen zu lassen).

Johannes Franzen ist ein gutes Beispiel, er schreibt auch für die Kulturteile von „Zeit online“ oder der „taz“. Und dann gibt es da ja nicht nur das Feuilleton: Gerade Verlage spähen unentwegt im Netz nach Talenten und Themen. Wer bei Twitter oder Instagram mit einer großen Gemeinde, mit ordentlich Abonnenten und Followern für Aufsehen sorgt, hat schnell auch ein Buch veröffentlicht und ein weiteres in Aussicht.

Produktive Koexistenz der alten und neuen Medien

Man muss also von einem Geben und Nehmen sprechen, von einer produktiven Koexistenz der verschiedenen Medien. Dabei verschieben sich Macht, Einfluss und Diskurshoheit mal in die eine, mal in die andere Richtung. Und wenn es zum Beispiel darum geht, guter Literatur den Weg in die Bestsellerlisten zu bahnen, sind Feuilleton wie Literaturblogs inzwischen gleichermaßen am Zug.

Wieviel Einfluss wiederum jemand wie die Literaturbloggerin Nicole Seifert inzwischen hat, ließ sich Anfang des Jahres gut beobachten, als das Inforadio des rbb zur Begleitung seiner Sendung „Quergelesen“ eine Liste mit zehn der wichtigsten Titeln des literarischen Jahres 2020 veröffentlichte. Darauf fanden sich ausschließlich Bücher von Männern, von Handke über Hornby bis Vargas Llosa.

Nachdem Seifert diese Liste bei Twitter beanstandet und es in ihrem Gefolge viel Kritik und Unverständnis darüber im Netz gegeben hatte, sah sich die Inforadio-Redaktion zu einer Erklärung veranlasst. In der hieß es, die Auswahl der Titel sei komplett „subjektiv“ gewesen und erhebe nicht den Anspruch, „das Literaturjahr in seiner Gänze abzubilden. Die Sendung Quergelesen behandelt Literatur von Autorinnen und Autoren seit jeher absolut gleichberechtigt...“, und es folgten drei Links ins Sendungsarchiv.

Die Zählerei und die feministischen Hinweise auf eine strukturelle Ungleichheit in der Literaturwelt mögen nervig sein, doch all das sensibilisiert, schafft vielleicht eines Tages eine gewisse Gerechtigkeit, die keiner weiteren Kommentierung mehr bedarf. Und über die Qualität der jeweiligen Literatur lässt sich dann umso besser streiten.

Zur Startseite