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Kirill Petrenko, der neue Chef der Philharmoniker.

© AFP/Bayerische Staatsoper/Wilfried Hösl

Von Rattle bis Abbado: Petrenko und seine Vorgänger bei den Philharmonikern

Die Berliner Philharmoniker gingen bei der Wahl ihrer Chefdirigenten immer voll auf Risiko. Ein Blick auf Kirill Petrenko - und jene, die vor ihm kamen.

Die Besten sind gerade gut genug für die Berliner Philharmoniker. So viel steht fest. Wie aber definiert sich Spitzenqualität in der Klassik? Viele Orchester setzen bei der Wahl ihrer Chefdirigenten auf Renommee, auf den großen Namen, der lukrative Nebenjobs verspricht, regelmäßige Tourneen und möglichst umfangreiche CD-Aufnahmen. Nicht so die Berliner Philharmoniker. Berühmt und weltweit gefragt sind sie ja selber schon. Wer diesem Orchester vorstehen will, der muss die Musikerinnen und Musiker durch seine Persönlichkeit inspirieren, künstlerisch voranbringen können.

Besieht man sich die Chefdirigentenwahlen seit Herbert von Karajans Tod, sieht man: Alle drei Male ist das Orchester, das die Wahlen ja als basisdemokratisch organisiertes Ensemble in Eigenregie durchführen darf, voll auf Risiko gegangen. Nicht die Nummer-Sicher-Kandidaten haben sich durchgesetzt, Maestri, die man schon lange kennt und schätzt. Sondern Künstler, von denen sich die Musikerinnen und Musiker Zukunftsweisendes erhofften – und erhoffen.

Ein radikaler Bruch mit der Tradition war 1989 die Entscheidung für Claudio Abbado. Gerade den älteren Mitgliedern der Philharmoniker fuhr gehörig der Schreck in die Knochen, als der Italiener erklärte: „Ich bin Claudio. Für alle. Keine Titel.“ Der gottgleiche Karajan war verehrt oder gefürchtet worden – seinen Nachfolger sollten sie jetzt plötzlich duzen?! Ganz so wörtlich war das von Abbados Seite aber gar nicht gemeint. „Claudio“ stand symbolisch dafür, dass sich in der musikalischen Arbeit alle auf Augenhöhe begegnen sollten. Bei Machtfragen hinter den Kulissen konnte Abbado sehr wohl auf seiner Richtlinienkompetenz bestehen.

Die Kunst der Achtsamkeit hatte der 1933 geborene Abbado von klein auf gelernt, denn in dem Mailänder Intellektuellenhaushalt, in dem er aufwuchs, gehörte das Kammermusikmachen zum Alltag. Das genaue Hinhören, das Nachvollziehen dessen, was die anderen spielen, machte er zum Credo seiner Interpretationen.

Im Probenprozess konnte er die Berliner Philharmoniker damit zur Verzweiflung treiben. Weil er ganze Passagen immer wieder durchspielen ließ, ohne zu benennen, was er anders haben wollte. Viele haben ihm das als Schwäche ausgelegt. Dabei war es nur seine Art, die Mitspieler zum eigenen Denken zu zwingen.

Eher ein Feingeist. Claudio Abbado.
Eher ein Feingeist. Claudio Abbado.

© picture alliance / dpa

Abbado strebte nach Verfeinerung des Wahrnehmungsvermögens durch Verinnerlichung. Bei den Musikerinnen und Musikern, denen er vorstand, ebenso wie beim Publikum, das ihm zuhörte. Die lange, konzentrierte, gemeinsame Stille nach dem letzten Ton war ihm der kostbarste Moment einer Aufführung.

Viel wichtiger als der tosende Applaus, der danach losbrach. In 688 Aufführungen hat er die Berliner Philharmoniker geleitet, denn auch, nachdem er im Sommer 2002 den Chefposten geräumt hatte, kam Abbado bis kurz vor seinem Tod 2014 regelmäßig als Gast wieder.

Mit Rattle ging es ins 21. Jahrhundert

Simon Rattle, sein Nachfolger, konnte nicht nur ein Orchester übernehmen, das sein Vorgänger ästhetisch sensibilisiert hatte. Sondern er profitierte auch von dem Verjüngungsprozess, der sich während der Ära Abbado vollzogen hatte. Gleich dutzendweise gingen damals Musiker in Rente und wurden durch junge, erfahrungshungrige Kräfte ersetzt. Die erhofften sich wiederum, mit dem Briten den Sprung ins 21. Jahrhundert zu schaffen.

Und Sir Simon lieferte, führte die Philharmoniker ins Offene, riss den stilistischen Horizont radikal auf, mit viel zeitgenössischer Musik, mit Mozartopern, die das Orchester noch nie gespielt hatte, mit seiner Liebe zu Haydn, Janacek und Sibelius, zum französischen Impressionismus und zu den rhythmischen Raffinessen eines Igor Strawinsky.

Er war ein Motivator. Simon Rattle.
Er war ein Motivator. Simon Rattle.

© Boomtown Media

Viele Glücksabende bleiben in Erinnerung: Bernsteins „Wonderful Town“, Holsts „Planeten“, die „Carmina Burana“, Werke von Robert Schumann, den Rattle spät für sich entdeckte, Stockhausens „Gruppen“ im Hangar des Flughafens Tempelhof und nicht zuletzt Wagners „Parsifal“ bei den Osterfestspielen Baden-Baden in Rattles letzter Saison 2017.

Vom Elitären zum Weltoffenen

Zum signature piece von Rattles Amtszeit aber wurde Strawinskys „Sacre du printemps“. 21 Mal haben die Philharmoniker und ihr Chef sich in den Strudel der archaischen Rhythmen und leuchtenden Klangfarben dieses Schlüsselwerks des 20. Jahrhunderts gestürzt. Eine dieser Aufführungen ist sogar in einem Kinofilm festgehalten, „Rhythm Is It!“, dem Kinoerfolg von Thomas Grube und Enrique Sanchez Lansch über das Jugendtanzprojekt mit dem Choreografen Royston Maldoom.

Eine Million Menschen sahen den Film, die Idee der „Education“, die Rattle aus seiner Heimat mitgebracht hatte, wurde zuerst zum Innovationsmotor für die Jugendarbeit der Berliner und dann auch für alle weiteren Orchester im deutschsprachigen Raum.

In der Ära Rattle hat sich das Image der Philharmoniker seit 2002 gründlich gewandelt, vom Elitären zum Weltoffenen, vom Musealen zum Diversen. Für den Dirigenten waren die 16 Berliner Jahre aber auch eine harte Schule. Denn bis zuletzt konnte er nicht alle im Orchester überzeugen. Im Philharmoniker-Magazin „128“ beschrieb er den Grundkonflikt mit britischer Doppeldeutigkeit: Ja, dieses Orchester brennt – doch genau darum dürfe man ihm nicht zu nahe kommen.

Die Philharmoniker machten es sich mit der Wahl schwer

Lodernde Leidenschaft für die Sache, flammendes Engagement im Spiel – was Dirigenten bei anderen Ensembles oft mühevoll einfordern müssen, gehört hier zum Selbstverständnis. Aber diese Musikerinnen und Musiker sind zugleich auch Feuerquallen. Und der Dirigent ist nie der Boss. Nicht einmal ein primus inter pares. „Sie sind wie die Meistersinger: eine Gilde“, weiß Rattle. Und ermahnt sich und seine Dirigentenkollegen: „Wir sollten niemals vergessen, dass wir zu dieser Gilde nicht gehören. Wir dürfen dabei sein, wir dürfen teilhaben.“

Dass es 2015 zwei Wahlgänge brauchte, bis klar war, dass Kirill Petrenko der Nachfolger Rattles sein sollte, zeigt, wie schwer es sich die Philharmoniker machen, wenn es um ihre Zukunft geht. Äußerst intensiv waren im Vorfeld die internen Diskussionen darüber, wohin sich das Orchester langfristig entwickeln soll.

Vom Wesen ist Petrenko näher an Abbado

Hart prallten die Meinungen aufeinander, sodass ein erster Wahltag zu keinem Ergebnis führte. Die Klassikwelt staunte über die Berliner Musikerinnen und Musiker – doch letztlich war dieses Scheitern nötig, um den finalen Entscheidungsprozess in Gang setzen zu können.

Drei Mal nur hatte der 1972 in Omsk geborene und in Österreich ausgebildete Dirigent mit den Philharmonikern gearbeitet seit seinem dortigen Debüt 2006. Und doch war auch jenen aus den Reihen der Philharmoniker, die noch nie unter ihm gespielt hatten, aus Kollegenkreisen schon so viel Gutes über Petrenko zu Ohren gekommen, dass er sich am Ende gegen Konkurrenten wie Christian Thielemann, Andris Nelsons oder Gustavo Dudamel durchsetzen konnte.

Vom Wesen her ist Kirill Petrenko Claudio Abbado näher als Simon Rattle. Abbado redete ungerne in der Öffentlichkeit, Petrenko gibt seit zehn Jahren überhaupt keine Interviews mehr. Umso lieber sitzen beide dafür im stillen Kämmerlein beim Partiturstudium.

Raum für Experimente

Anders als Abbado allerdings ist Petrenko in den Proben kein Schweiger, sondern außergewöhnlich eloquent, mit Worten wie mit Gesten. Ob es ihm, dem Detailfanatiker, künftig gelingen wird, sein starkes Kontrollbedürfnis im Konzert teilweise abzulegen, den Musikern jenen Raum zur individuellen Entfaltung zu geben, den sie so schätzen, wird die Zukunft zeigen.

Wie man sich selber und dem Orchester das ideale Maß an inspirierenden Freiheiten gewähren kann, haben sein Vorgänger wie auch sein Vorvorgänger ebenfalls erst im Laufe der Jahre herausgefunden.

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