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Rebellen gegen die Überwacher. Julie Christie und Oskar Werner in Truffauts Verfilmung von „Fahrenheit 451“ (1966).

© imago images/Everett Collection

Von Konsumwahn bis „Cancel Culture“: Warum dieser dystopische Romanklassiker wieder aktuell ist

Zum 100. Geburtstag von Ray Bradbury erhält sein 1953 erschienener Roman „Fahrenheit 451“ eine Neuübersetzung. Er wirkt wie eine Parabel auf die Trump-Ära.

Science-Fiction-Romane haben in der Regel ein nur knapp bemessenes Verfallsdatum, für Dystopien scheint diese Regel aber nicht zu gelten. Ray Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451“, der 1953 auf dem Höhepunkt der antikommunistischen McCarthy-Ära in den USA erschien, ist dafür das beste Beispiel. Umso mehr nach der Auffrischungskur, die Peter Torberg nun aus Anlass des 100. Geburtstages von Bradbury in Form einer Neuübersetzung vorgenommen hat.

Dass das Werk des 2012 im Alter von 91 Jahren verstorbenen US-amerikanischen Schriftstellers heute sogar aktueller denn je erscheint, liegt nicht etwa daran, dass sich in ihm die Menschen von sinnfreien Soaps auf wandgroßen Bildschirmen oder von Klängen aus airpodartigen Hörstöpseln und Drogen betäuben lassen und auch ihren Nachwuchs gleich nach der Schule vor die „Wand“ setzen, um sich nur ja nicht um ihn kümmern zu müssen.

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Und es liegt auch nicht daran, dass Bradbury, dem die phantastische Literatur neben diesem noch etliche weitere große Werke wie „Die Mars-Chroniken“ (1950), „Der illustrierte Mann“ (1951) oder „Löwenzahnwein“ (1957) verdankt, hellsichtig den Aufstieg sogenannter alternativer Fakten vorausgesehen hat. Denn in „Fahrenheit 451“ gilt Benjamin Franklin, der eigentlich die Freiwillige Feuerwehr erfand, als Begründer der „Fire-Men“.

In der Neuausgabe steht dafür nun endlich korrekt zweideutig „Feuermänner“ (und nicht wie in früheren Übertragungen „Feuerwehrmänner“), denn in Bradburys Zukunftsvision hat die Feuerwehr die Aufgabe, nicht mit dem Löschschlauch, sondern mit Flammenwerfern in Häuser einzudringen, um etwaige versteckte Bücherbestände zu verbrennen.

Ihr Wahlspruch lautet: „Montag brennt Millay, Mittwoch Milton, Freitag Faulkner, verbrennt sie zu Asche, und verbrennt dann die Asche.“ Darauf spielt auch der Romantitel an: Fahrenheit 451 (was 233 Grad Celsius entspricht), das ist die Temperatur, bei der sich Papier entzündet.

Der feuchte Traum der „Cancel Culture“

Nein, hochaktuell wirkt Bradburys Romanalbtraum über eine Welt ohne Bücher auf heutige Leser und Leserinnen, weil sich in ihm die Gesellschaft entschieden hat, alles, was den „Seelenfrieden“ von irgendjemandem gefährden könnte, alles, was wen und warum auch immer verletzen, irritieren, provozieren oder verärgern könnte, einfach abzuschaffen.

Und das sind eben vor allem Bücher, sprich Literatur und Philosophie. „Dumme Wörter, dumme Wörter, dumme, schrecklich verletzende Wörter“, sagt im Roman eine verstörte Nachbarin, als diese unfreiwillig das erste Liebesgedicht ihres Lebens zu hören bekommt. „Warum wollen Menschen sich gegenseitig verletzen? Gibt es nicht schon genug Schmerz auf der Welt, muss man die Menschen auch noch mit solchem Zeug piesacken?“

[Ray Bradbury: Fahrenheit 451. Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 270 Seiten, 24 €.]

Wenn es heute wirklich eine „Cancel Culture“ gibt, die lieber den Boykott oder das Entfernen unliebsamer Geistesschöpfungen aus Buchhandlungen oder Galerien fordert, statt sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, so ist die Welt von „Fahrenheit 451“ so etwas wie ihr feuchter Traum.

Dass Repression und Zensur dabei nicht etwa von einer faschistischen Regierung ausgehen, sondern von einer immer dünnhäutigeren, zersplitterten, von ihren eigenen Befindlichkeiten restlos erschöpften Gesellschaft, ist die dunkle Pointe von Bradburys Roman.

Parabel auf die Trump-Ära

Das hat vor zwei Jahren auch der Bezahlsender HBO erkannt, der dem Werk unter der Regie von Ramin Bahrani ein Remake widmete, als Parabel auf die Trump-Ära, ein halbes Jahrhundert nach Truffauts kongenialer Erstverfilmung. Vom großartigen Ende des Romans blieb dabei allerdings kaum etwas übrig.

Umso schöner ist es daher, nun dank Peter Torbergs Neuübertragung noch einmal mit Bradburys Helden Guy Montag dem Aufbruch der letzten Büchermenschen zu folgen: obdachlose Akademiker, die fern der Stadt in ihren Köpfen unablässig für künftige Generationen ihre jeweiligen Lieblingswerke memorieren und dabei in sich „das langsame Umwenden“ verspüren, „das leise Köcheln der Wörter“.

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