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Kultur: Von der Gegenkultur zur Gegenwart

In Kalifornien steht die Wiege des Planeten: Die Ausstellung „The Whole Earth“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Glück lässt sich bestellen, die gute Zukunft kostet ein paar Dollar mehr – und wem beides nicht hilft, der kann immer noch Tantra üben oder sich ein bisschen optimieren. Der „Whole Earth Catalog“, die Bibel der Hippies, war dick wie der „Quelle-Katalog“, offerierte aber die Konsumwelt für ein besseres Leben. Eines der heute raren Exemplare, die von 1968 bis 1972 regelmäßig und danach noch mehrere Jahrzehnte lang sporadisch erschienen, liegt nun im Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Es ist eine Ausstellung, so übervoll an Texten und Tablets, wie man es von einem diskursiven Thema erwartet, vielleicht auch befürchtet. Doch dann taucht man ein in „The Whole Earth – Kalifornien und das Verschwinden des Außen“. Studiert fasziniert die Gegenkulturen der sechziger und siebziger Jahre. Und verbringt idealerweise Stunden mit Jefferson Airplane, dem Konzeptkünstler Jack Goldstein, Videoveteran Ira Schneider, Robert Frank als fotografischem Chronisten der Beat-Kultur und natürlich Stewart Brand – jenem Mann, der in seinem Bessere-Welt-Katalog nicht bloß auflistete, was die Kommune zum Leben braucht. Sondern der zugleich ein früher, glühender Anhänger elektronischer Netzwerke war und den Begriff des „Personal Computer“ erfand. Steve Jobs – in Kalifornien geboren und gestorben – soll in Brands „Whole Earth Catalog“ einmal den Vorläufer von Google erkannt haben. Was wohl auch daran liegt, dass man hier unglaublich früh per E-Mail ordern konnte.

Im Bauch des HKW schlummern also die kollektiven Erinnerungen einer ganzen Generation. Was sie mit der Gegenwart verbindet, ist das wahre Thema dieser Ausstellung, die ihre eigene Geschichte von der Geburt der Erde erzählt. Ein wenig anders, als sie sich in der Bibel oder den Naturwissenschaften darstellt. Denn hier geht es um die Nachwehen einer medialen Sensation, genauer: um die ersten Satellitenbilder vom Blauen Planeten. Und darum, was die nördliche Halbkugel nach 1945 aus dieser phänomenalen Ansicht gemacht hat.

Wie ein Leitmotiv wölbt sich „The Whole Earth“ durch die gleichnamige Schau. Als Kulisse für die Sphärenduelle früher James-Bond-Filme, in denen das Feindbild noch exakt zu kartografieren war und „der Russe“ sich pausenlos in der Entführung amerikanischer Raumfähren übte. Und ebenso als Hintergrundmotiv für Stanley Kubricks Science-FictionKino einer „Odyssee im Weltraum“ von 1968, in der Supercomputer HAL drei Astronauten im schwerelosen Schlaf die Luft abdreht. Zur selben Zeit druckt Brand ein Bild des Blauen Planeten auf seinen Bestellkatalog. Dafür musste er allerdings erst eine Kampagne gegen die Nasa anzetteln, um die Raumfahrtbehörde zur Veröffentlichung der ersten Fotos aus dem All zu zwingen.

Die Ausstellung kombiniert solche Materialien mit historischen Arbeiten etwa von Richard Serra, der keineswegs als Monumentalbildhauer begonnen hat. Sein Video „Boomerang“ von 1974 reflektiert die Koordination von Sprechen und Denken, wenn er die Künstlerin Nancy Holt mit Sätzen beschallt, die sie kurz vorher vorgelesen hat. Holt reagiert konfus, weil sie sich unwillkürlich selbst zuhören muss. Ergänzend zeigt „The Whole Earth“ aber auch Dokumente der Pop-Kultur, die sich bis heute als politische Geste lesen lassen. Wenn etwa das Plattenlabel Blue Horizon 1969 eine Doppel-LP namens „The Blues“ produziert und auf das Cover eine Abbildung des Planeten Erde druckt. Zu hören ist Musik afroamerikanischen Ursprungs, im Wechsel gespielt von Fleetwood Mac, Ma Rainey und Sunnyland Slim. Weiße Rockbands und schwarze Veteranen globalisieren den Blues in einer Gesellschaft, die Segregation noch immer heimlich oder ganz offen wie in Südafrika für selbstverständlich hält.

Das Bild der Erde: ein Symbol von höchster Anziehungskraft, meint Anselm Franke, der als neuer Bereichsleiter für bildende Kunst und Film im HKW für die Ausstellung verantwortlich ist. Eine Ikone, die jeder für sich besetzen wollte – sprachlich wie metaphorisch. Die Technologiegläubigen mit ihrer Vision von der blauen Kugel als Raumschiff, das nur regelmäßig gewartet und bei Bedarf repariert werden muss, um einwandfrei zu funktionieren. Und ihre Antagonisten, die „Mutter Erde“ schützen, bewahren und spirituell aufladen wollen, weil die Kosmonauten Gott im All bekanntlich nicht entdecken konnten. Aber das ist eine andere Geschichte und wohl Thema einer zweiten Ausstellung über den Universalismus der östlichen Hemisphäre.

Franke und sein Co-Kurator Diedrich Diederichsen haben auch so genug zu tun. Bei „The Whole Earth“ handelt es sich keineswegs um eine simple Reihung visueller und auditiver Dokumente, die von den künstlerischen Interpretationen eines Andy Warhol, Öyvind Fahlström oder Robert Smithsons Land Art flankiert werden. Es geht um die Grammatik des westlichen Denkens. Um das, was die „kalifornische Idee“ einst gesät hat und worauf wir immer noch reflexhaft reagieren. Seinen Ursprung hat es im „Golden State“, an der Grenze zum pazifischen Ozean mit der Unendlichkeit stets vor Augen. Ein perfekter Sehnsuchtsort für Träume, Visionen – und Silicon Valley.

Das ist die andere Facette einer einzigartigen Allianz. In Kalifornien lebten Hippies und Kybernetiker, Natur-Romantiker und Techno-Freaks. Psychedelia und Computerkultur – das ging wunderbar zusammen. Hier kreuzen sich dieWege von Songwriter Tim Buckley, der als Fünfjähriger mit seiner Familie nach Kalifornien zog, und Jordan Belson, der dem magischen Ort längst verfallen war und spirituelle Motive mit Sujets der Raumfahrt zu künstlerischen Collagen verband.

Eleanor Antin, 1935 geboren, ging Ende der Sechziger nach Kalifornien und schuf politische Fotoarbeiten, die neben neuen Arbeiten in „The Whole Earth“ zu sehen sind. Nicht zuletzt bietet Stewart Brand die perfekte Synthese. Sein Interesse an LSD und alternativen Lebensformen paarte sich mit viel Sympathie für die konstruktive Architektur eines Buckminster Fuller oder das elektronische Zeitalter. Heute begeistert sich der greise Brand für Gentechnik und Kernenergie.

Die aktuelle Diversivität interessierte die Generation von damals wenig. An der Utopie eines besseren Lebens zimmerten alle auf der Suche nach alternativen Lebensformen. Dass hier dennoch der Vielklang wurzelt, vom elektronischen Nerd bis zum esoterischen Kartenleger, ist eine Erkenntnis der Ausstellung. 1968 habe ein irreversibler Prozess begonnen. Der Blick aus dem All zur Erde, so Franke, stehe für eine kapitale Verschiebung der Position.

Der Mensch schaut sich seine eigenen Lebensbedingungen an. Klimadiskussionen, die Wachstumskritik des Club of Rome 1972, die Metapher von der global vernetzten Gesellschaft – für all diese Thesen hat man nun ein Foto. Und damit den Beweis. Anselm Franke und Diedrich Diederichsen wagen ein Experiment, das wundersam aufgeht.

Ihre stets auch spekulative Erzählung bietet verführerische, einfallsreiche und mitunter entlarvende Erklärungen dafür, weshalb wir so sind, wie wir sind.„The Whole Earth – Kalifornien und das Verschwinden des Außen“, Haus der Kulturen der Welt (HKW), John-Foster-Dulles-Allee 10. Eröffnung Do, 25. 4., ab 19 Uhr. Bis 1. 7., Mi-Mo u. feiertags 11-19Uhr. Vom 21.-22. Juni gibt es eine Konferenz zum Thema: „Von Öko-Psychedelia zum Internet-Neoliberalismus“

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