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Kanzelworte. Der US-Whistleblower Edward Snowden bei einer Liveschaltung zum Musikfestival im dänischen Roskilde am 28. Juni 2016.

© Reuters

Von Assange bis Snowden: Prominente Whistleblower dienen oft nur der Vermarktung

Bekannt von vielen Konferenzen: Liveschaltungen mit Whistleblowern wie Edward Snowden und Julian Assange werden immer häufiger genutzt. Sie sind schick – doch sie laufen ins Leere.

In seinem Essay „Rasender Stillstand“ untersucht der französische Philosoph Paul Virilio die Wahrnehmung von Gegenwart und Raum. Mit jedem fahrtechnischen Fortschritt hätten sich Raum- und Zeitdistanzen reduziert, schreibt er, bis hin zur Auflösung der Strecke. Transport sei aber nur die vorletzte Stufe der Geschwindigkeitsrevolution, die letzte, das sei das „statische Vehikel“, die audiovisuelle Übertragung. Die permanente Bildübertragung verdamme die Zuschauer zur Immobilität, zum „bewohnbaren Koma“.

Nun ist dieser Essay bereits 1992 erschienen und die audiovisuellen Medien haben sich seitdem mehrfach revolutioniert. Gerade der Blick auf Liveübertragungen zeigt, dass Virilio einiges vorhergesehen hat, darunter auch das, was der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa das „Slippery Slope Phänomen“ nannte: die Verselbstständigung der Beschleunigung, den Zustand, dass das gerade erst Erlebte schon nicht mehr „up to date“ ist.

Besonders in den Nachrichten: So hatte der Nachrichtensender BFMTV nach den Januar-Attentaten in Paris mit den in einer Lagerhalle verschanzten Terroristenbrüdern telefoniert, bevor die Polizei vor Ort war – die Nachrichtengewinnung hatte die Realität eingeholt.

Dass sich nach Twitter nun auch Facebook mit Live-Video beschäftigt, ist nur ein weiterer Schritt hin zu Virilios „statischem Vehikel“. Das hat der Philosoph innerhalb seiner Geschwindigkeitstheorie erläutert. Viel spannender und unerklärlicher aber ist, wie die Form der Liveübertragung genutzt wird, ohne sich der Logik der Gleichzeitigkeit auszusetzen, ohne die Vorteile des Gleichzeitigen zu nutzen: die Liveübertragung um der Liveübertragung willen.

Auf den ersten Blick geeignet

Ein Beispiel dafür konnte man kürzlich in der Berliner Volksbühne sehen. „First they came for Assange“ hieß die Veranstaltung – „mit Julian Assange via Videoschaltung“. Vor Ort war die Wikileaks-Mitarbeiterin Sarah Harrison, der Journalist Michael Sontheimer, der für den „Spiegel“ mit den Wikileaks-Dokumenten arbeitete und Hans-Christian Ströbele, Grünen-Urgestein und Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste. Es solle um Transparenz und Whistleblowing gehen, kündigte die Regisseurin Angela Richter an, die den Abend moderierte.

Der zentrale Bestandteil des Abends war jedoch eine nicht einmal zehnminütige Liveschaltung in die ecuadorianische Botschaft, wo der Wikileaks-Gründer Julian Assange seit nunmehr vier Jahren festsitzt. Die Schalte wurde gleichzeitig in neun andere Städte übertragen, darunter in Mailand, bei einer Modenschau von Vivianne Westwood, im Brüsseler Kunstmuseum Bozar mit Yanis Varoufakis oder im Pariser Centre Pompidou mit dem Philosophen Bernard Stiegler und Patti Smith.

Als pünktlich um 21.30 Uhr Assanges Gesicht auf der Leinwand auftaucht, füllt sich der Raum mit einer Erwartungshaltung, dass jetzt etwas Besonderes passieren muss, dass man an einem raumauslöschenden Moment teilnimmt mit Zuschauern, Aktivisten, Politikern in ganz Europa. Und dann liest Assange von einem Zettel vor: Er erkennt in sich die „Superpower of the Accused“. Nicht er sei der Held, nicht Edward Snowden oder Chelsea Manning, sie alle zusammen aber ergäben „something special“. Er verspricht sich oft, füllt nach jedem Wort seine offensichtliche Überforderung mit einem „eehm“ auf und dankt allen, die überall in Europa zu den Veranstaltungen gekommen sind. In der zweiten Hälfte der Liveschalte darf ein ecuadorianischer Botschaftsmitarbeiter darüber sprechen, wie vorbildhaft sich sein Land im Umgang mit Assange gezeigt hat.

Und er hat ja recht. Assanges Hetzjagd durch Europa ist ein Skandal. Bis heute wurde keine Anklage erhoben. Ein UN-Gremium befand im Februar, dass Assange in „willkürlicher Haft“ sitzt und verlangte seine Freilassung. Bis heute wollte weder Schweden noch Großbritannien zusichern, auf eine Auslieferung in die USA zu verzichten, sollte er beim Versuch, sein politisches Asyl in Ecuador zu erreichen, festgenommen werden. Die einzige Lösung für Assange ist öffentlichen Druck zu erzeugen. Und da scheint so eine europaweite Live-Videoschaltung als das auf den ersten Blick Geeignetste.

Am Ende nur Enttäuschung

Diese Liveschalte aber ist Form, nicht Zweck. Als bloßes Stilmittel verliert sie jegliche Wirkung. Vorteile des Gleichzeitigen sind die Auseinandersetzung, der Diskurs über räumliche Grenzen hinweg. Das Gleichzeitige wirkt hier seltsam ungleichzeitig. Man sieht eigentlich nichts weiter als ein durch prominente Gäste analog erhöhtes YouTube-Video, das eine seltsame Aura ausstrahlt.

Diese live geschalteten Video-Postulate sind keine Eigenheit digital-medialer Aktivisten. Auch Ai Weiwei hat sich live auf den Potsdamer Platz übertragen lassen oder die Besetzer der Gerhart-Hauptmann-Schule ins Maxim Gorki Theater. Für niemanden aber ist es inszenatorisch so wichtig wie für Geheimdienst-Whistleblower. Zusammen mit Edward Snowden war Assange bereits für den Theaterabend „Supernerd“ am Schauspiel Köln zugeschaltet. Und einer Konferenz von Russia Today in Moskau. Und im Europapark Rust! Snowden war live in die Dresdner Semperoper geschaltet, zur Keynote der IT-Security-Messe in Nürnberg, zur republica in Berlin, zum „Festival des Libertés“ in Brüssel, zur Verleihung des Stuttgarter Friedenspreises, zur Computermesse Cebit, zur Media Convention, zum Festival Roskilde.

Diese „realzeitlichen Aufnahmen“, schreibt Virilio, „sind dazu in der Lage, eines Tages die Betrachtung der Umwelt zu ersetzen oder sogar zu verdrängen“. Und genau das scheint für Assange, für Snowden und deren Anliegen die Gefahr. Die Leinwand ist zweidimensional, wie auch Assange und Snowden. Die Protagonisten bleiben in den einseitigen Bekundungen undeutlich. Und die Themen, für die sie sinnbildlich stehen, Big Data, Transparenz, Informationsfreiheit, unbehandelt. Mit dem Fokus auf das Eventhafte der live übertragenen Kanzelworte verwischt der Hintergrund, vor dem die Protagonisten überhaupt ihre Bedeutung erlangt haben. Der abwesende Held wird zur vom Werk losgelösten Figur.

Gleichberechtigter Raum fehlt

Der Medientheoretiker Jean Baudrilliard, auf den sich Virilio auch bezog, befand für Massenmedien schon 1972, dass sie „jeden Tauschprozess verunmöglichen“, weil sie „die Antwort versagen“. Es ist fast schon unglaublich, dass sich die mediale Revolution, hin zu immer sozialeren, immer gleichzeitigeren Medien, immer direkteren Interaktionsformen, noch immer so treffend mit einem 45 Jahre alten Befund erklären lassen.

Statt als inklusives, transparentes Medium, das die perfekte Form der Darstellbarkeit von Unmittelbarem, Wechselwirkendem, Gleichzeitigem und Direktem bewerkstelligen kann, als Medium für Frage und Antwort im gleichberechtigten Raum, wirkt die Liveschaltung immer öfter wie ein vermarktungslogisch inszeniertes, selbstmaßstäbliches Event. Die Immobilität der Zuschauer endet hier aber zum Glück spätestens mit dem Heimweg.

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