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Zweckentfremdung. Die Materialien von Dmitry Paranyushkin liegen auf den Tischen des Sozialamtes. Der Künstler hat sie dort verteilt, um sich den Ausstellungsraum zurückzuholen.

© Juan Saez

Vom Sozialamt verdrängt: Die Galerie Wedding bekommt nach 18 Monaten ihre Räume zurück

In der Pandemie musste man dem Sozialamt Platz machen. Nun hat die Zeit des Improvisierens zwar ein Ende. Doch es bleibt ein Gefühl nagender Unsicherheit.

Dmitry Paranyushkin trägt noch ein paar Blätter auf dem Sweatshirt mit sich herum. Das Laub stammt von draußen, eben noch lag der Künstler gestikulierend auf dem steinernen Platz neben der kommunalen Galerie Wedding.

Paranyuskins Performance, die er als Workshop deklariert und in dem die Teilnehmer:innen Techniken der Resilienz üben, fand anlässlich seiner Ausstellung „EightOS – Cross-contextual confluence“ statt. Ein Glück für ihn, dass der Berliner Herbst mitgespielt hat: In die Galerie hätte der Workshop trotz aller Weitläufigkeit der Räume nämlich nicht mehr gepasst. Dort formieren sich die Tische, PCs, Plexiglasscheiben und Stühle des benachbarten Sozialamtes zu einer ganz eigenwilligen Ausstellung.

Seit 18 Monaten belegt das Amt die Räume der Galerie, quasi über Nacht wurden hier Arbeitsplätze installiert. Vor der Tür stehen die Weddinger unter der Woche Schlange, um mit den Sachbearbeiter:innen über Sozialleistungen zu verhandeln. Alles konform im Rahmen des Pandemiegesetze und jeweils werktags bis 12 Uhr. Danach könnte der Galeriebetrieb beginnen – wenn sich das Interieur des Sozialamtes schnell und spurlos für den Rest des Tages verstauen ließe.

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Tut es aber nicht, und so musste sich die künstlerische Leiterin der Galerie, Solvej Helweg Ovesen, permanent etwas einfallen lassen. Eine wachsende Bibliothek im kleineren, unbesetzten Raum der kulturellen Einrichtung bietet Stoff zum Lesen, das Schaufenster immerhin blieb für Präsentationen wie der schrägen Keramik von Emily Hunt, die Bezug auf die Situation nahm und ihre Schau „Job Center. Aufgeladene Orte. Psychic Places“ nannte.

Zurück bleibt ein Gefühl nagender Unsicherheit

Künstler wie Dmitry Paranyushkin integrieren die Frontdesks in ihre Ausstellung: Sein Parcours durch dynamische Systemwissenschaft, Kampfkunst, Musik, Software und Technologie nutzt die Tische des Sozialamtes als Inseln, an denen man mehr über die Kunst des 40-jährigen Performers erfahren kann. Andere Veranstaltungen fanden wie Paranyushkins Workshops den Sommer über unter freiem Himmel statt – doch damit macht jetzt das Wetter Schluss.

Schon im vergangenen Jahr verfassten Solvej Helweg Ovesen und Ute Müller-Tischler, die Leiterin für den Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte in Mitte, einen Appell auf der Website der Galerie. „Wir brauchen unsere Ausstellungsräume bis spätestens zum 1. Oktober 2020 als freien Kunstraum zurück“, forderten sie. Ein ganzes Jahr und einen guten Monat später ist es jetzt endlich soweit, das Sozialamt kündigte kurzfristig seinen Auszug für den kommenden Mittwoch an.

[„EightOS“, Galerie Wedding, Müllerstr. 146/147; Di–Do 12–18 Uhr. Finissage mit Gespräch am 10. November, 19 Uhr]

In die Erleichterung über den nahen Rückbau mischt sich allerdings auch ein leises Bedauern: Paranyushkins Schau, die sich an den aktuellen Bedingungen orientiert, endet umbaubedingt nun fast eine Woche früher als geplant. Ovensen wird die Lücke rasch füllen, ihr Talent zur Improvisation hat die gebürtige Dänin über einen schmerzhaft langen Zeitraum unter Beweis gestellt. Zurück bleibt dennoch ein Gefühl nagender Unsicherheit.

Ein Affront gegen die Kuratorin

Pandemiebedingt war es sicher richtig, die räumliche Situation des Sozialamtes zu entzerren und die Behörde auf zusätzliche Flächen auszuweichen. Dies aber auf Kosten einer Institution zu tun, die seit Jahren versucht, den Wedding als migrantischen Bezirk mit in die kulturelle Arbeit einzubeziehen, bringt das Soziale und die Kultur in eine ungute Konkurrenz. Darüber hinaus ist es ein Affront für Solvej Helweg Ovesen, die als Kuratorin international geschätzt wird. Sie realisiert in der kommunalen Galerie mit bescheidenen Mitteln ein beeindruckendes Ausstellungsprogramm, das weit über den Wedding ausstrahlt. Über Monate konnte sie bloß ein Minimalprogramm bieten, und selbst aus den Ersatzräumen, die die Galerie anfangs in Aussicht gestellt bekam, ist nichts geworden.

Schwamm drüber, könnte man denken, wenn nun die Tische und Plexiglaswände in wenigen Tagen verschwinden. Doch das erzwungene Experiment hat noch etwas zutage gefördert, dem sich Ute Müller-Tischler intensiv widmen müssen wird. Seit 2009 ist die kommunale Galerie im Rathaus Wedding ansässig, drei Jahre später kam sie als neue Kulturleiterin nach Mitte – und hat nun festgestellt, dass es keinen schriftlichen Mietvertrag gibt. Genauso wenig wie für die zweite kommunale Galerie in Mitte in der Auguststraße. Beide brauchen aber Sicherheit: So wehrlos wie in den vergangenen anderthalb Jahre dürfen sie nicht noch einmal dastehen.

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