zum Hauptinhalt
Ego-Netzwerk. Der ehemalige Außenminister der USA, Henry Kissinger (l.), im Gespräch mit dem deutschen Amtskollege Hans-Dietrich Genscher beim 10. Bertelsmann Forum in Berlin.

© picture-alliance/ dpa

Vom frühen Christentum bis Twitter: Die Macht der Netzwerke

Was hat die Erfindung des Buchdrucks mit Facebook gemeinsam? Warum war Kissinger einflussreicher als Nixon? Historiker Niall Ferguson untersucht das Wechselspiel zwischen Netzwerken und Hierarchien.

Niall Ferguson hat mal freimütig eingestanden, dass er den eigenen Twitter-Account nur auf Drängen seines Verlags betreibt. In den sozialen Netzwerken präsent zu sein, ist unverzichtbar fürs Marketing. Der britische Historiker mag kein digital native sein, doch er weiß sich zu verkaufen, und er sucht stets den Bezug zu Fragen der Gegenwart. Als konservativer Kommentator des Tagesgeschehens machte er zuletzt etwa mit einer Rücktrittsforderung an Angela Merkel auf sich aufmerksam. Die Kanzlerin werde möglicherweise „als die Regierungschefin in die Geschichte eingehen, die Europa auf dem Gewissen hat“.

Sein neues Buch „Türme und Plätze“ ist insofern ein typischer Ferguson. Darin greift er die aktuelle Diskussion um Facebook und eben Twitter, um Fake News und die vermuteten russischen Eingriffe in den US-Wahlkampf auf und ordnet sie historisch ein.

Im mittelalterlichen Zentrum von Siena in der Toskana entdeckte Ferguson einst die Piazza del Campo mit dem 102 Meter hohen Torre del Mangia. Turm und Platz repräsentieren, was für ihn die Geschichte mindestens seit der Reformation vorantreibt: das Wechselspiel zwischen Hierarchien und Netzwerken.

Momentan, so Ferguson, lebten wir in einem Zeitalter, in dem Netzwerke immer wichtiger werden. Innovativ, aber destabilisierend, können sie seit jeher die althergebrachte Ordnung ins Wanken bringen. Trotzdem wurde ihnen in der Historiografie lange wenig Beachtung geschenkt. Dabei lässt sich schon das frühe Christentum als religiöses Netzwerk verstehen, das die Hierarchie des Römischen Reichs unterminierte.

Als „erstes vernetztes Zeitalter“ beschreibt Ferguson das westliche Europa des 16. Jahrhunderts mit seinen relativ schwachen Fürstentümern und mächtigen, untereinander verbundenen Familien wie den Medici. Verblüffende Ähnlichkeiten zu den heutigen technischen Entwicklungen und ihrer sozialen Sprengkraft erkennt der Historiker vor allem in der Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks. Gutenbergs bewegliche Metallletter ermöglichten ein Netzwerk des Protestantismus, das schließlich in weiten Teilen Europas die Macht der katholischen Kirche brach und eine neue Hierarchie etablierte.

Ferguson schreibt anschaulich und unterhaltsam. Sein Buch steckt voller anregender Gedanken und amüsanter Anekdoten. Auf die Idee, „Il libro dell’arte di mercatura“ des Renaissance-Kaufmanns Benedetto Cotrugli zu einem Vorläufer von Donalds Trumps „Art of the Deal“ zu erklären, muss man erst mal kommen.

Den Auftakt des Buches bildet eine knappe, gute Einführung in die Netzwerkforschung. Danach folgt ein Parforceritt durch 500 Jahre Geschichte, der nicht wirklich überzeugt. Es gibt kaum ein Phänomen der Neuzeit, das sich nicht als Netzwerk interpretieren ließe, von der Philosophie der Aufklärung bis zum islamistischen Terrorismus. Doch Fergusons Beispiele wirken oft beliebig, seine Analysen oberflächlich. Sicher, auch die Anhänger der Taiping-Bewegung schufen ein Netzwerk; die christliche Sekte drohte Mitte des 19. Jahrhunderts das chinesische Kaiserreich zum Einsturz zu bringen. Doch welchen Erkenntnisgewinn bieten fünf Seiten, auf denen der Verlauf des Taiping-Aufstands atemlos und nur in den gröbsten Zügen referiert wird?

Analysen zum Haus Rothschild und Henry Kissinger

Gelungener sind die Kapitel, in denen der Autor zu Themen zurückkehrt, die ihn seit jeher beschäftigen und die schon im Mittelpunkt früherer Bücher standen: die Macht des Hauses Rothschild etwa oder das Wirken Henry Kissingers.

Analysiert man das Netzwerk des ehemaligen Nationalen Sicherheitsberaters und US-Außenministers, und vergleicht man es mit dem von Präsident Richard Nixon, unter dem Kissinger vier Jahre lang arbeitete, so wird ersichtlich, woran Nixon scheiterte und was Kissinger bis heute zu einer so einflussreichen Figur macht. Während sich die Kontakte des Präsidenten in der Mehrzahl aufs Weiße Haus beschränkten, „verwendete Kissinger von Anfang an beträchtliche Energie darauf, ein Netzwerk aufzubauen, das sich horizontal in alle Richtungen über den Washingtoner Beltway hinaus erstreckte: zur Presse und sogar zur Unterhaltungsindustrie“. Die Darstellungen, die jeweils das „egozentrierte Netzwerk“ von Kissinger und Nixon zeigen, basierend auf deren Biografien, sind faszinierend – wie überhaupt viele der Grafiken des Buches, etwa die zu den Dschihad-Unterstützern auf Twitter.

Insgesamt ist „Türme und Plätze“ geeignet, eine neue Perspektive auf die Geschichte zu eröffnen – und einen frischen Blick auf die Gegenwart. Denn am Ende des Buches gelangt Ferguson wieder im Heute an und damit bei der Frage, wie stark das Internet gegenwärtige Hierarchien erschüttern wird.

Die Aufständischen des „Arabischen Frühlings“ konnten sich dank sozialer Medien zwar leichter vernetzen, ihre Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel erfüllten sich dennoch nicht. In China kann man sogar eine gegenteilige Entwicklung beobachten. Dort nutzt der Staat Mikroblogs, um „abweichende Meinungen zu überwachen sowie Korruption zu kontrollieren“. Auch was den Westen angeht, sollten wir laut Ferguson mit der fortgesetzten Zerstörung von Hierarchien rechnen, „aber auch mit der Möglichkeit, dass es zu einer Art von Restauration hierarchischer Ordnung kommt, wenn klar wird, dass die Netzwerke allein einen Abstieg in die Anarchie nicht abwenden können.“

Niall Ferguson: Türme und Plätze. Netzwerke, Hierarchien und der Kampf und die globale Macht. Propyläen Verlag, Berlin 2018. 640 S., 32 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false