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Volker Weidermann

© Julia Zimmermann/Kiepenheuer & Witsch

Volker Weidermanns Bestseller "Ostende": Exil im Urlaubsparadies

Ostende, 1936: Volker Weidermann widmet sich in seinem neuen Buch der seltsamen und außergewöhnlichen Freundschaft von Stefan Zweig und Joseph Roth.

Von Oliver Bilger

Die beiden Männer geben ein seltsames Paar ab, so, wie sie nebeneinander an der Seepromenade spazieren. Der Ältere ein erfolgreicher, gemachter Autor, Jude aus dem Westen, mit kultivierten Umgangsformen, sehr wohlhabend und aus gutem Hause. Der andere, obgleich viel jünger, in deutlich schlechter Verfassung, ein Ostjude aus ärmlichen Verhältnissen, ein Trinker, ein Suchender. Die Schriftsteller Stefan Zweig und Joseph Roth. Zehn Jahre lang schreiben sie sich bewundernde, wütende und bettelnde Briefe, besuchen sich und bleiben doch immer beim Sie. Dieser seltsamen und außergewöhnlichen Freundschaft widmet Volker Weidermann sein neues Buch. „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft“.

Der Kur- und Badeort Ostende in Belgien ist im Sommer 1936 die Zuflucht einer Exilgemeinschaft, „… das Meer, der lange, weite Strand, die große, etwas zu breite Promenade, das geschwungene Casino mit der großen Terrasse, die Bistros, die kleinen Marmortische davor, die Badehäuschen aus Holz und Sand.“ Hübsch schaut es aus, ein bisschen zu idyllisch, dafür, dass hier alle „als Menschen auf der Flucht in einer Urlaubswelt“ sind. Noch einmal treffen die großen Schriftsteller aus Deutschland und Österreich aufeinander – bald darauf werden sie sich in alle Winde zerstreuen.

Auch hier geht es um die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem

Für Stefan Zweig ist es schon der zweite Sommer in Ostende. Den ersten hatte er dort im Jahr 1914 verbracht, einen „herrlichen Sommer“, wie Weidermann weiß, an den er „auch in späteren Jahren immer denken wird, wenn er das Wort ,Sommer‘ ausspricht“. Zu dem berühmten österreichischen Autor stoßen Joseph Roth, Egon Erwin Kisch und seine Frau, dazu Arthur Koestler, Irmgard Keun, Ernst Toller, Wili Münzenberg und noch ein paar mehr. Und schon setzt sich das Figurenkabinett in Bewegung. Man spaziert am Strand, verbringt den Nachmittag auf der breiten Seepromenade oder in einem der weißen Badehäuschen, speist zusammen im Café Flore. Joseph Roth verliebt sich in Irmgard Keun, diese sich in ihn, die Truppe hat ihr Trinkerpärchen gefunden. Ernst Toller schluckt beim Schwimmtraining zu viel Meerwasser, alle lästern über Klaus Mann, der dieses Jahr mal nicht da ist, und auch über dessen Vater, dem sie es übelnehmen, dass er so lange gezögert hat, sich zu den Exilanten zu bekennen. Verzweifelt versucht die Gesellschaft in Urlaubsstimmung zu kommen. Doch die Eindrücke von Vertreibung, von Publikationsverbot, von drohender Deportation und dem sich ankündigenden Krieg dominieren die Gespräche. Die bösen Vorahnungen lassen schon im Juli Spätsommerschwermut aufkommen.

Die collagenartige Geschichtsschreibung, die „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“, wie der Autor und Kunsthistoriker Florian Illies diese auch von Weidermann angewandte Methode nennt, ist auf dem Literaturmarkt seit einigen Jahren schwer in Mode und genauso schwer erfolgreich. Die Werke heißen „1913. Sommer des Jahrhunderts“ von ebenjenem Florian Illies, „1926. Ein Jahr am Rand der Zeit“ von Hans Ulrich Gumbrecht oder „1812. Napoleons Feldzug in Russland“ von Adam Zamoyski. Gemeinsam ist ihnen allen die Absicht, das Kleine im Großen zu erzählen. Oder das Große im Kleinen.

Joseph Roth: großer Dichter, kleiner armer Jude

Volker Weidermann
Volker Weidermann

© Julia Zimmermann/Kiepenheuer & Witsch

Welche Erzählinstanz die Geschichte der Urlaubsgesellschaft in Ostende aufbereitet, wird zunächst schwer ersichtlich. Ist es der Biograf Volker Weidermann selbst, der mit „Ostende“ ein Sachbuch vorlegt – oder ein anderer allwissender Erzähler, der Zweig, Roth und die anderen persönlich kennt? Die Erzählung will sich nicht entscheiden und schwankt zuweilen zwischen bloßer Informationsvermittlung („1925 hatte Stefan Zweig eine Novelle geschrieben“, „Im Frühjahr 1936 hatte Joseph Roth begonnen, den Roman seiner Heimat zu schreiben“) und der fiktiven, wissenden Einfühlung („Zweig war fassungslos“, „sie gibt ihm scheu die Hand“), in die sich dann durchaus nostalgische Töne mischen: „Stefan Zweig im Sommer 1936. Er blickt durch die großen Fenster auf das Meer und denkt mit einer Mischung aus Rührung, Scheu und Freude an die Gemeinschaft der Fliehenden, zu der er sich gleich wieder gesellen wird.“

Joseph Roth: großer Dichter, kleiner, armer Jude

Volker Weidermann versteht es, die Abschiedsstimmung, die diese Schriftstellergesellschaft umweht haben muss, in schöne, wenn auch leicht überzuckerte Worte zu fassen. Ebenso feinfühlig erweist er sich, wenn es um die Beschreibung der Zänkereien und Plänkeleien untereinander geht. Wer hat wem den Stoff für sein Buch geklaut? Wer schuldet wem Geld? Das schmale Buch macht Lust, die Bücher von Stefan Zweig, Joseph Roth oder Irmgard Keun wiederzuentdecken und zu lesen. „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft“ ist eine kleine Hommage – ganz offensichtlich bewundert Weidermann diese Schriftsteller, seine Faszination für sie springt die Leserin von jeder Seite an. Vor allem jedoch zollt dieses Buch einer sonderbaren und innigen Freundschaft Tribut. Stefan Zweig hegte eine große Bewunderung für Joseph Roth und hielt den unbekannteren Schriftsteller aus Brody für ein großes Genie. Als Roths Trinkerei und Verschwendungssucht überhandnimmt, mahnt er: „Haben Sie endlich den Mut, sich einzugestehen, daß, so groß Sie als Dichter sind, Sie im materiellen Sinne ein kleiner armer Jude sind“.

Für sein Buch hat der Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ Archive durchwühlt, mit den Biografen und den noch lebenden Verwandten der Schriftsteller Gespräche geführt und sich bei dem im vergangenen Jahr verstorbenen Literaturkritiker und großen Zweig- und Roth-Kenner Marcel Reich-Ranicki Rat geholt. Wenn Weidermann das Meerespanorama in Ostende mit seiner Lupe beschaut, um die kleinen Lebensgeschichten von einer Handvoll großer Erzähler sichtbar werden zu lassen, dann glaubt man als Leserin tatsächlich, mit Joseph Roth am Tisch zu sitzen und seine Schnapsfahne riechen zu können.

Volker Weidermann: Ostende.1936, Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 157 Seiten, 17,99 €.

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