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Der Berliner Schriftsteller Tobias Schwartz, 44.

© Elfenbein Verlag

"Vogelpark" von Tobias Schwartz: Das Grauen hinter dem Rauputz

Frisch ausgepackte Möbel und sexuelle Tragödien: Tobias Schwartz’ Roman „Vogelpark“ über eine Provinzjugend in den achtziger Jahren.

Zunächst gibt es eine Entwarnung: Tobias Schwartz’ Roman „Vogelpark“ (Elfenbein Verlag, Berlin 2020. 192 S., 22 €.) mag Mitte der achtziger Jahre angesiedelt sein, kommt aber ohne die dieser Dekade gern angedichtete schrille Aufgeregtheit aus.

Das wird schon zu Beginn offensichtlich: Als beim Warten an der niederländischen Grenze im Radio des alten Renault 4 Nenas „99 Luftballons“ ertönt, dreht die Mutter des Protagonisten das Gerät ab – und legt stattdessen eine Harry-Belafonte-Kassette ein. Und einmal ist von dem roten und dem blauen Album der Beatles die Rede.

Tobias Schwartz ist Jahrgang 1976. Gut möglich, dass er die beiden seinerzeit tatsächlich sehr beliebten Platten aus der Sammlung seiner Eltern kennt. Das Setting dieses Romans im deutsch-holländischen Grenzgebiet hat der Berliner Autor auf jeden Fall verinnerlicht, er wuchs in der 7000 Einwohner zählenden Kleinstadt Emlichheim auf.

„Vogelpark“ ist hier wie sein letzter, 2019 veröffentlichter Roman „Nordwestwärts“ angesiedelt.

Das kleine Glück ist ständig bedroht

Schwartz’ Figuren bauen sich ihre eigenen, dekadenunabhängigen Welten auf. Die Mutter sitzt ständig in ihrem Gemüsebeet und jätet. Der Vater, Lehrer von Beruf, scheint ein unglücklicher Mensch zu sein – und einer, der Unglück über seine Familie bringt. Er trinkt viel, stinkt erbärmlich, hat wechselnde Sexualpartnerinnen.

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Die Schwester bekommt von alldem nicht viel mit; sie versinkt in der klassischen Musik. Ihr Klavier ist lauter als das auf dem ganzen Grundstück hörbare Quietschen der Bettfedern, dem Soundtrack des väterlichen Ehebruchs.

Und Jonas, von dem dieses Buch in erster Linie erzählt? Er ist ein neunjähriger Schulbub, der für sein Alter erstaunliches ornithologisches Wissen angehäuft hat, das durchaus zur praktischen Anwendung kommt. Im Garten des Einfamilienhauses züchtet er allerhand Gefieder, anderes lässt sich von selbst dort nieder; zum Personal des Romans gehören neben den Familienmitgliedern auch Nachtigall, Zwerghuhn, Amsel, Goldfasan und Mandarinente. Jonas träumt davon, den Garten weiterhin mit Federvieh zu bevölkern – einen richtigen Vogelpark möchte er einrichten.

Schwartz achtet stets auf eine Balance zwischen Tragik und Komik

Doch dieses kleine Glück ist ständigen Bedrohungen ausgesetzt. Er leidet ebenso unter seinem schweren Asthma wie unter den Drangsalierungen der Nachbarskinder und den brutalen Schlägen des Vaters. Einmal sitzt dieser am Küchentisch, trinkt und weint. Jonas sitzt unter dem Tisch, nahe den väterlichen Füßen. 

Der Gestank ist so bestialisch, dass er sich beinahe übergeben muss: „Jonas tat er jetzt sogar ein wenig leid, wie er so alleine dasaß und trank, ohne dass er jemanden hatte, der mit ihm sprach. Dass er ihm leid tat, hieß aber noch lange nicht, dass er gerne mit ihm gesprochen hätte – auch nicht in diesem Moment, schon gar nicht in diesem Moment.“

Schwartz mag an einigen Stellen des Romans ein erstaunlich brutaler Chronist familiärer Unruhen sein. Man fühlt sich an eine Zeile des Liedermachers Bernd Begemann erinnert. Der sang in seiner „Deutschen Hymne ohne Refrain“ einmal von „frisch ausgepackten Möbeln und sexuellen Tragödien“ in der Kleinstadt.

Genau das ist auch das Thema von Tobias Schwartz: Bruchstellen und Abgründe, all das Grauen, das Gartenzaun und Rauputz mehr oder weniger geschickt verdecken.

Aber Schwartz achtet stets auf eine Balance zwischen Tragik und Komik. Er zeichnet sein recht übersichtliches Ensemble ebenso liebevoll wie liebenswert; schickt die Kinder, als die Ehe der Eltern endgültig zerbricht, mit der leicht bizarren Tante in die Sommerfrische nach Berlin, wo sie staunend in der Deutschen Oper die „Zauberflöte" sehen dürfen; oder lässt mit Gerda eine Hilfskraft über Garten und Haushalt wachen, die es mit Süßigkeiten und Fernsehen nicht so genau nimmt wie die Mutter.

Dabei umkurvt er trotz eines nostalgischen Blickes lässig die Klischees. Vor allem aber bedient er sich einer Sprache, die dialogstark ist und mit feinem Gespür Realitäten nachzeichnet. Am deutlichsten wird das in einem – folgenschweren – Seitenstrang: Wenn Schwartz davon erzählt, wie sich Jonas in die deutlich ältere Swantje verliebt, ein Unterfangen ohne Aussicht auf Erfolg, zärtelt er plötzlich, sperrt alles Böse aus, lässt seinen kleinen Helden in melancholischer Weltenflucht den Träumen nachhängen. Zwei weitere Bücher der Emlichheim-Reihe sind in Planung.

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