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Horror mit Tradition. Schon 1894 verübten Türken einen Massenmord an Armeniern – auf zeitgenössischer Schokoladenwerbung verniedlicht.

© mauritius images

Völkermord vor 100 Jahren: Der armenische Albtraum

Aleppo, Kobane, Berlin: Geschichte wiederholt sich. Eine Erinnerung an den Völkermord von 1915

Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal Berlin besuchte, hatte ich ein klares Ziel. Ich ging nach Charlottenburg, in die Hardenbergstraße. Meine Freunde konnten das überhaupt nicht verstehen. Was um alles in der Welt suchst du in der Hardenbergstraße, es gibt doch so viel zu sehen in der Stadt?

Für jemanden aus einem fernen Land, der als Schüler in einer Theateraufführung ein Ereignis dargestellt hat, das in der Berliner Hardenbergstraße spielt, war es allerdings nur natürlich, diesen Ort aufzusuchen. Dort tötete Soghomon Tehlirian, ein Überlebender des Völkermords an den Armeniern, der alles verloren hatte, seine Familie, seine Heimat, am 15. März 1921 Talaat Pascha. Pascha war Führer der Jungtürken und Drahtzieher des Genozids, er lebte in Deutschland im Exil.

Wir fanden die Straße und das Haus, und ich machte ein Foto. So verband sich die Hardenbergstraße, der Ort des Attentats, über Raum und Zeit hinweg mit anderen Orten, von Armenien bis Berlin. Und über Aleppo, Istanbul, Kobane, Karabach wieder nach Berlin zurück.

Nach dem Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915 fanden meine Großeltern, die aus Siverek stammten, Zuflucht in Aleppo. Dann zogen sie nach Kobane, eine Stadt an der Grenze zur Türkei, in der eine Familie aus Waisen und Witwen besser leben konnte. Jahrzehnte später ist mein Vater in Kobane geboren. Vor fünfzig Jahren gab es dort zwei Schulen, zwei Kirchen, es gab Kultur, Jugend- und Sportvereine.

Erneut erlebte Kobane Gräueltaten - wie vor 100 Jahren

Wer konnte sich damals vorstellen, dass dieser ruhige Grenzort eines Tages im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen würde, als Zankapfel zwischen den Kurden und dem „Islamischen Staat“, dem größten Übel unserer Zeit? Wer hätte geahnt, dass diese kleine Stadt, in der hauptsächlich Überlebende des Genozids an den Armeniern wohnten, hundert Jahre später ähnliche Gräueltaten erleben würde? Ein Jahrhundert ist vergangen, aber wir haben so wenig gelernt.

Vor zehn Jahren besuchte mein Vater zum letzten Mal Kobane. Den Geburtsort seines Vaters hat er nie gesehen, die alte Heimat – Siverek. Die Urgroßeltern besaßen dort Weinberge. Unser Familienname leitet sich von dem armenischen Wort für Weinberg ab. 2010, auf dem Weg von Aleppo nach Yerevan, war ich einen Tag lang in Siverek. Ich wanderte in den Weinbergen umher und versuchte, Zeichen einer verlorenen Zivilisation zu finden. Ich suchte verzweifelt nach den Spuren meiner Vorfahren.

Betrachtet man die Folgen des Genozids und die Zerstörungen mit eigenen Augen, dann klingt das Wort vom „gemeinsamen Schmerz“ noch zynischer, wie es häufig von türkischer Seite propagiert wird. Der Besuch in Siverek hat mir wenig geholfen. Unser moderner urbaner Lebensstil hat mit dem armenischen Dorfleben vor der großen Katastrophe von 1915 nichts mehr zu tun.

Dichten, Architekten, Rechtanwälte wurde zu Eckpfeilern armenischer Identität

In Istanbul fand ich mehr Spuren armenischer Identität. Wenn man durch die Straßen von Beyoglu oder am Bosporus entlangspaziert, ist die Präsenz der vielen Schriftsteller, Dichter, Architekten, Rechtsanwälte und Journalisten zu spüren, die einst das Leben in der Hauptstadt des Osmanischen Reichs prägten und später zu Eckpfeilern der armenischen Identität und Kultur in aller Welt wurden.

Die Erinnerung an den Völkermord wird oft als Gedenkfeier des „24. April“ bezeichnet. An jenem Tag im Jahr 1915 wurden armenische Künstler und Intellektuelle zu Hunderten verhaftet und in den Tod getrieben. Als ich am 24. April 2011 in Istanbul war, um über die Gedenkfeiern zu berichten, wurde ein armenischer Wehrpflichtiger in der türkischen Armee von einem Kameraden im Dienst getötet. Offiziell hieß es, er sei bei einem „groben Unfug“ ums Leben gekommen. Der Name des türkischen Soldaten wurde geheim gehalten. Die Identität des Mörders ist inzwischen bekannt, aber er ist bis heute ohne Strafe geblieben – ebenso wie die Mörder des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der am helllichten Tag in Istanbul ermordet wurde, vor dem Redaktionsgebäude. Ein Jahrhundert ist vergangen, aber es hat sich so wenig verändert.

Ein Jahrhundert ist vergangen, und diese unruhigen Landstriche haben noch immer keinen Frieden gefunden. Aleppo, das nach dem Ersten Weltkrieg Tausende von armenischen Überlebenden aufgenommen hat, liegt heute im Zentrum des Kriegs. Syrien hat früher Flüchtlinge aus Palästina, Libanon, Irak und vielen anderen Gebieten aufgenommen, aber heute ist es selber das Land, aus dem die meisten Flüchtlinge kommen. Einige von ihnen sind jetzt in Deutschland. Kaum auszudenken, wie schwer es für die Nachkommen solch großzügiger Menschen ist, nun selber Not und Vertreibung zu erleben, auf der Flucht zu sein.

Wenn man vom syrischen Albtraum spricht, dann muss man auch an die heroischen Taten erinnern. Während der vergangenen Jahre standen so viele Syrer für ihre Würde ein, sie verteidigten ihre Freiheit, trotzten dem Extremismus und trugen die teuflischen Folgen. Als starkes Beispiel möchte ich den Kampf der Kurden um Kobane erwähnen. Wie sehr erinnert er an das Drama der Armenier vor 100 Jahren, auf der gleichen Erde zwischen Sassoun und Musa Dagh, wie sehr auch an den Kampf um die Selbstbestimmung der Armenier in Karabach nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Hier hätte die Geschichte anders verlaufen können. Hier liegen die Wurzeln so vieler aktueller Probleme, in der Kultur der Straffreiheit nach dem Völkermord. Was wäre die Türkei heute für ein Land, wenn Talaat Pascha in der Türkei vor Gericht gestellt und bestraft worden wäre, statt dass die Armenier in Berlin, in der Hardenbergstraße selber Gerechtigkeit üben mussten? Würden wir dann auch überall in der Türkei seine Denkmäler sehen, wären Schulen und Straßen nach ihm benannt? Wäre die türkische Gesellschaft weniger intolerant? Gäbe es dann auch Bewunderer von Talaat Pascha und anderen Kriminellen? Und gäbe es ein Komitee, das in seinem Namen durch Europa tourt, um den Völkermord an den Armeniern zu leugnen …

Ein Jahrhundert ist vergangen, aber wir kämpfen noch immer für Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Wie düster die Situation heute auch erscheinen mag, die Kräfte des Friedens und der Gerechtigkeit sind stärker denn je, und sie finden Verbündete auf der ganzen Welt.

Übersetzung aus dem Englischen: Rüdiger Schaper. Harout Ekmanian lebt als Jurist und Journalist in Armenien und berichtet u. a. aus der Türkei und Syrien. Am Samstag, den 7. März, hält er im Maxim Gorki Theater die Eröffnungsrede zur Reihe „Es schneit im April – Eine Passion und ein Osterfest“ zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern. Um 16.30 Uhr wird auf dem Vorplatz die Videoinstallation „Auroras“ von Atom Egoyan eröffnet. Am Abend feiert „Musa Dagh – Tage des Widerstands“ Premiere, ein Stück des Berliner Regisseurs Hans-Werner Kroesinger. Die Produktion geht auf den Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel zurück. Kroesingers Stück „History Tilt“ über das Berliner Attentat vom 15. März 1921 steht von 12. bis 15. März auf dem Programm. Bis Ostern beschäftigt sich das Gorki in vielen Veranstaltungen mit dem Genozid an den Armeniern. Dabei geht es auch um die Verantwortung des Deutschen Reichs und die Situation in der Türkei heute.

Harout Ekmanian

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