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Maestro mit Visionen. Vladimir Jurowski, Jahrgang 1972.

© Simon Pauly/RSB

Vladimir Jurowski und „El Niño“: Die frohe Botschaft ist Chefsache

Vladimir Jurowski macht sich mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin für John Adams’ Minimal-Music-Oratorium „El Niño“ stark. Eine Begegnung.

Die erste Saison ist gut gelaufen für den neuen Chefdirigenten des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Blättert man die Tagesspiegel-Kritiken zu Vladimir Jurowski durch, findet sich dort viel Lob, bis hin zur Euphorie. Und auch das Publikum zieht mit. 400 Abonnenten konnte das RSB neu dazugewinnen, das Konzert mit Mahlers „Lied von der Erde“ im Oktober lockte so viele Einzelkartenkäufer an die Kasse wie lange nicht.

Natürlich gibt es auch Stammgäste, die Marek Janowski hinterhertrauern, Jurowskis Vorgänger, der ab 2002 in bewusst traditioneller Kapellmeistermanier das RSB zu einem Ensemble von beeindruckender technischer Präzision gedrillt und inhaltlich einen Schwerpunkt auf das deutsche Repertoire des 19. Jahrhunderts gelegt hat. Der 33 Jahre jüngere Jurowski geht da bewusst andere Wege, sein Repertoire ist enorm gespreizt, er hat ein offenes Ohr fürs Zeitgenössische sowie eine Neigung zum musikalisch begründeten Experiment. Darum fügte er Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“ beim Silvesterkonzert 2017 zwischen zwei Sätze von Beethovens Neunter ein, konfrontierte Mozart mit Zemlinskys Spätromantik und Arvo Pärts klingender Stille.

Jurowski ist ein Intellektueller

Konsequent anspruchsvoll präsentiert sich jetzt auch Jurowskis zweite Berliner Saison, herausfordernd für das Publikum wie für seine Musikerinnen und Musiker. Denn der 1972 in Moskau geborene Dirigent, der an der Eisler-Hochschule studiert hat und 1996 sein erstes Engagement an der Komischen Oper antrat, ist ein Intellektueller.

Er schätzt neben der Musik auch alle anderen Künste, vor allem die Literatur, vertieft sich gern in philosophische Fragestellungen. Und erhofft sich von seinen Mitspielern ein Interesse an den Werken, das über reine aufführungspraktische Fragen hinausgeht, den Kontext der Entstehung mitreflektiert. Denn auch wenn der Klassikbetrieb nicht als Mitbestimmungsmodell funktioniert, ist es aus Jurowskis Sicht für einen Dirigenten „immer besser, dem Wissenden eine Linie vorzugeben, als dem Unwissenden“.

Kindliche Freude

In seiner Arbeit mit dem RSB geht es dem Dirigenten um Horizonterweiterungen. „Ich freue mich immer wie ein Kind auf die Proben, auf den kreativen Prozess, wenn ich einem Orchester ein neues Stück mitbringe.“ So wie jetzt „El Niño“. Spielt alle Welt in der Adventszeit die berühmten Bach’schen Kantaten, setzt Jurowski mit dem zur Jahrtausendwende uraufgeführten Oratorium des amerikanischen Minimal-Music-Meisters John Adams einen Kontrapunkt. In dem es auch um Weihnachten geht, doch aus der weiblichen Perspektive betrachtet. Denn die traditionellen Bibeltexte werden hier kombiniert mit Gedichten südamerikanischer Autorinnen.

„Es geht um Schwangerschaft, um die Erwartung eines Kindes, den Zustand der Mutter nach der Geburt“, erklärt Jurowski und fügt hinzu: „Ich finde es mutig von einem Mann, sich in die Seele einer Frau zu versetzen.“ Gleichzeitig wird aber auch ein Bezug zu konkreten politischen Ereignissen hergestellt, wenn, analog zur Tötung der Neugeborenen durch Herodes, an das Massaker von Tlatelolco erinnert wird, bei dem 1968 rund 300 friedlich demonstrierende Studenten vom mexikanischen Militär umgebracht wurden. „So entsteht ein interessanter sozialpolitischer Kontext für die schlichte, spirituelle Geschichte.“

Das Finale rührt ihn zu Tränen

Vladimir Jurowski ist schon lange ein Fan von John Adams. „El Niño“ hat er bereits beim London Philharmonic Orchestra dirigiert, dessen Chef der seit 2007 ist, sowie bei seinem Festival für zeitgenössische Musik in Moskau. „Das Stück stellt das Orchester technisch vor enorme Anforderungen, weil es ganz auf Präzision angelegt ist. Zwischen richtig und falsch besteht nur ein hauchdünner Unterschied“, sagt Jurowski. „Aber am Ende wird die Mühe belohnt durch eine unglaubliche emotionale Bandbreite.“

Manche Kritiker sprechen hier auch von Kitsch, vor allem beim Finale, wenn Adams den Kinderchor von der Palme berichten lässt, die sich in der Wüste neigt und die Menschen mit Früchten beschenkt. „Adams ist kein europäischer Avantgardist, er hat keine Angst vor Schönheit“, hält der Dirigent dagegen. Für ihn ist der Schluss „ein einfaches Volkslied, das zufälligerweise an Hollywood erinnert. Ich persönlich werde davon immer wieder zu Tränen gerührt – obwohl ich kein sentimentaler Mensch bin“.

Ein ökumenisches Stück

Autoren, die sich mit den Problemkomplexen der Gegenwart beschäftigen, haben für Vladimir Jurowski „eine moralische Verantwortung“, ihr Publikum nicht ohne Hoffnung zurückzulassen: „Hoffnung ist immer die Verklärung der noch nicht da gewesenen Realität“. Dass sich Adams daran hält, weiß der Dirigent zu schätzen. „Jedes Kind, das geboren wird, ist ein Geschenk. ,El Niño‘ ist zudem ein ökumenisches Stück, es zeigt die Verbindungen, die das Christentum mit den anderen Weltreligionen hat.“

Ganz zentraleuropäisch geprägt ist die Stückwahl dann beim traditionellen RSB- Konzert am 23. Dezember, wenn Werke von Bach, Honegger, Pärt, Zemlinsky und Lutoslawski erklingen. Jurowskis Idee ist hier, die menschliche Stimme möglichst vielfältig erklingen zu lassen: „Denn Weihnachten ist das Fest, bei dem die frohe Botschaft verkündet wird.“ Darum hat er für den Abend die Berliner Singakademie eingeladen, einen Knaben- sowie einen Mädchenchor.

Auseinandersetzung muss jedes Mal aufs Neue beginnen

Zu Silvester folgt dann, wie gewohnt, Beethovens 9. Sinfonie, aber in Kombination mit einer Uraufführung, die Jurowski bei Georg Katzer in Auftrag gegeben hat, dem 1935 geborenen Komponisten, der ein Pionier der elektronischen Musik in der DDR war. Katzer beschwört in seinem Stück die konstruktive Streitkultur, die ja im zunehmend aufgeheizten gesellschaftlichen Diskurs gerade unterzugehen droht.

„Die Neunte darf keine Routineveranstaltung sein“, findet Jurowski. „Sie ist ein komplexes Werk, auch aufgrund der Rezeption, einschließlich des Missbrauchs durch diverse Diktaturen. Die Auseinandersetzung muss jedes Mal aufs Neue beginnen.“ Darum hat er sich entschlossen, künftig auch mal anderen Dirigenten das Jahresendkonzert zu überlassen – damit sein Orchester wie auch das Publikum mit kontrastierenden Interpretationsansätzen konfrontiert werden.

Jurowski dirigiert „El Niño“ am 15. Dezember um 20 Uhr im Konzerthaus.

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