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Vladimir Jurowski

© Simon Pauly

Vladimir Jurowski im Konzerthaus: Wir wissen alle viel zu wenig

Unerhörte Klangschönheit: Vladimir Jurowski dirigiert Gérard Griseys „Espaces Acoustiques“ und bedankt sich bei dem „fortschrittlichste Publikum Berlins“.

Einmal vorbehaltlos gelobt zu werden, wirkt Wunder. Als erfahrene Führungskraft weiß Vladimir Jurowski das. Der Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) betritt zunächst alleine das Podium im Konzerthaus, um sich an das „fortschrittlichste Publikum Berlins“ zu wenden. Gemeint sind damit alle, die ein Ticket für die Berliner Erstaufführung von Gérard Griseys „Les Espaces Acoustiques“ gelöst haben: „Ich habe nicht damit gerechnet, dass es am Ende so viele sein werden.“

Jurowski macht sich nichts vor, er kennt den Konservatismus und das Durchschnittsalter seines Publikums. Gerade deshalb besteht er auf Projekten, die den Horizont weiten wie Griseys 100-minütige Expedition in die Innenwelt der Klänge. Der umfassend artikulierte Maestro hat den Ehrgeiz, diese Komposition des 1998 verstorbenen Franzosen im Konzertsaal durchzusetzen. Er hält sie für ebenso wichtig wie Strawinskys „Sacre“, ein Schlüsselwerk der Moderne inklusive Hörner-Quartett, Hammond-Orgel und E-Gitarre, beinahe ein Rockkonzert oder ein „Ring des Nibelungen“ ohne Worte.

Jurowskis einstimmender Querpass auf Richard Wagner enthüllt einen wesentlichen Aspekt der Grisey-Erkundung: das utopische Moment einer Kunst, für die es eigentlich noch gar kein geeignetes Orchester gibt – und kein geschultes Ohr. „Les Espaces Acoustiques“ wollen den kaum wahrnehmbaren Klangschweif, der vergehende Töne begleitet, zum Protagonisten machen. Dabei wächst wie in der Elementarteilchenphysik der Apparat immer weiter an, je kleiner die zu untersuchenden Gegenstände werden, um dann übergangslos in die Philosophie zu münden. Unser vertrautes Hören in Halbtonschritten zersplittert in schillernde Bruchstücke. Vom tastend sich einschwingenden Bratschen-Solo (Jean-Claude Velin) bis zur vereinten Orchesterstärke von RSB und Ensemble Unitedberlin entsteht ein Universum aus dem Nichts und verschwindet wieder im finalen Schlag der Großen Trommel. Dazwischen hebt die Lichtregie einzelne Musiker oder Gruppen hervor.

Griseys Humor blitzt auf, wenn der sich ankündigende Beckenschlag doch nicht ausgeführt wird und ein theatralischer Spannungsaufbau wie in Hitchcocks „Der Mann, der zu viel wusste“ ad absurdum geführt wird. Wir wissen alle viel zu wenig. Auch die Unruhe, die im Konzertsaal ausbrechen kann, hat der Komponist in seine akustischen Räume integriert, das Scharren und Knistern, Wursteln und Wippen. Dieses undogmatische Augenzwinkern sorgt dafür, dass nur vereinzelte Zuhörer den Saal vorzeitig verlassen. Kreisende Passagen von unerhörter Klangschönheit und Jurowskis unbedingte Hingabe lassen den Abend zu einem raren Ereignis werden. Wer ihn verpasst hat, kann die Konzertaufzeichnung am Radio nachhören (Ausstrahlung heute, Dienstag, Deutschlandradio Kultur, 20.03 Uhr).

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