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Vittorio Grigolo

© Sony

Vittorio Grigolo singt Massenets "Werther": Gekommen, um zu leiden

Seufzer, Schluchzer und ein großes Taschentuch: Der italienische Tenor Vittorio Grigolo debütiert in der Philharmonie als Titelheld in Jules Massenets Goethe-Oper „Werther“

Er trägt die blaue Blume der Romantik im Knopfloch und das Herz auf den Lippen. Der italienische Tenor Vittorio Grigolo hat derzeit die besten Chancen, Rolando Villazón als Liebling der Opernwelt abzulösen. Seine Stimme ist schlanker als die des Mexikaners, das Timbre heller, aber Grigolo wird vom selben Mitteilungsdrang getrieben wie Villazón. Der Sänger will unbedingt raus auf die Bühne, sucht den unmittelbaren Kontakt zum Publikum, birst fast vor Gefühlsüberschwang. Bei der konzertanten Aufführung von Jules Massenets Goethe-Oper „Werther“ in der Philharmonie gerät dem Tenor im Eifer des emotionalen Gefechts das Notenpult mehrfach gefährlich ins Schwanken – so sehr identifiziert er sich mit dem unglücklich liebenden Helden.

Bei Rolando Villazón kommen zum Temperament noch Witz und Selbstironie, Vittorio Grigolo gibt sich der Emphase ungebremst hin, ganz altmodisch, mit pathetischem Händeringen, Schluchzen und Seufzen. Da ist er ganz Bruder im Geiste von Cecilia Bartoli, der „Mrs. 100 000 Volt“ des Belcanto, die wie er selbst in Rom aufgewachsen ist. Dort hat Grigolo als Sängerknabe in der Sixtinischen Kapelle das Lob des Herren angestimmt, dort hat er wohl gelernt, obsessiv am Klang zu feilen. Detailversessen sind seine vokalen Linien gearbeitet, voller Schattierungen und dynamischer Nuancen. Am liebsten würde er wohl jedem einzelnen seiner Töne eine individuelle Färbung geben.

Das macht Vittorio Grigolo zum idealen Interpreten der französischen Musik des 19. Jahrhunderts, bei der die Melodien ganz aus dem Fluss der gesprochenen Sprache entwickelt werden, im Heiteren wie auch im Dramatischen. Weil er vor seiner Zeit im Vatikan zudem eine französische Privatschule besucht hat, bereitet dem Tenor die geschmeidige, idiomatische Aussprache der von Massenet in Musik gesetzten Wertherschen Worte eigentlich keinerlei Schwierigkeiten. Und dennoch ist er beim Rollendebüt in der Philharmonie mächtig aufgeregt. Schon nach der Auftrittsarie muss er sich mit einem weißen Riesentaschentuch die Stirn abtupfen.

Natürlich ist die Nervosität unbegründet: Nachdem Grigolo in den Armen seiner Charlotte den letzten Atemzug getan hat, wird er vom Publikum gefeiert für seine herrlichen Verzweiflungsschreie, seine schüchternen Pianissimi, seine schmachtenden Kantilenen, kurz für eine glutvolle, alle Höhen und Tiefen dieser ewig gültigen Liebesgeschichte leidenschaftlich nachempfindende Interpretation. Dass er vom Jubel überwältigt wirkt, dass er in Demut niederkniet, dass er seinen Blumenstrauß in die Menge wirft – und den des verblüfften Baritons gleich hinterher – lässt die Fans beseelt gen Ausgang taumeln.

Im Schatten dieser übergroßen Bühnenpräsenz werden die Solisten des Abends zu bloßen Stichwortgebern. Ekaterina Gubanova singt eine kleinlaute, blasse Charlotte, in die erst im Angesicht des Todes ein wenig Leben fährt. Siobhan Stagg hat die jugendliche Frische für die Sophie, tiriliert aber zu schüchtern, um wirklich Glanzlichter in der düsteren Handlung setzen zu können. John Chest ist ein smarter Albert mit geschmeidigem Bariton, Markus Brück und Jörg Schömer nehmen die Herausforderung an, Klischeefiguren deutscher Gemütlichkeit darzustellen.

Sehr germanisch klingt leider auch das Orchester der Deutschen Oper, viel zu bedeutungsschwanger und erdgebunden, um den Duft der Massenetschen Partitur entfalten zu können. Generalmusikdirektor Donald Runnicles ist ein geschätzter Wagner-Interpret, der sich auch für die Werke des großen Innovators Hector Berlioz begeistert. Hier nun möchte man ihm dasselbe zurufen wie dem Titelhelden: Nicht immer alles so schwer nehmen! Mit einer Sorgfalt, die jeder Brahms-Sinfonie gut anstünde, modelliert Runnicles die Motive und vergisst dabei, dass es gerade die Klarheit ist, die Durchhörbarkeit des Orchestersatzes, die den französischen Komponisten der Zeit so wichtig war. Und die es der raffiniert gemachten, eleganten Musik erst ermöglicht zu schweben. Frederik Hanssen

Noch einmal am 19. Juni in der Philharmonie, 20 Uhr.

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