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Die halbe oder die ganze Wahrheit? Anonyme Aktivisten mit Guy-Fawkes-Masken in der Frankfurter Innenstadt.

© imago/Ralph Peters

Verschwörungstheorie: Schlechte Lügner gibt es schon zu viele

Von Claas Relotius zu Uwe Tellkamp: Nicola Gess untersucht die Funktion von „Halbwahrheiten“ im öffentlichen Diskurs.

Von Gregor Dotzauer

Eine Halbwahrheit kommt selten allein. Schon der Plural, ohne den sie rein sprachlich selten auskommt, verweist darauf, dass man sie anders als die offene Lüge nicht ohne Weiteres widerlegen kann. Halbwahrheiten bilden, wie die Basler Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess in einem brillanten Essay zeigt, ein erzählerisches Netz, das sich nicht einfach dem Schema von wahr und falsch unterwerfen lässt.

Vielmehr gewinnt es seine Überzeugungskraft aus weichen, form- und deformierbaren Plausibilitätskriterien. Es lebt von der suggestiven Glaubwürdigkeit statt von der spröden Aussage. Es setzt auf die affektive Befriedigung statt auf die nüchterne Prüfung. Und es bevorzugt die Behauptungen, die ungehindert weitere Behauptungen ins Kraut schießen lassen, statt einen notwendigen Punkt zu machen.

[Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 160 Seiten, 14 €.]

Halbwahrheiten haben von daher auch eine soziale Funktion. Ihr Wuchern, so die Autorin, zielt auf etwas Doppeltes: „Partizipation als Teilhabe an der kollektiven Produktion von Halbwahrheiten in progress; und Teilhabe an einem Kollektiv, das nicht nur gemeinsam an den Halbwahrheiten arbeitet, sondern sich zugleich über diese immer wieder seiner Zusammengehörigkeit versichert.“

Kohärenz statt Korrespondenz

Mit Nicola Gess auf den philosophischen Punkt gebracht: Es geht bei der spezifischen Wahrheit von Halbwahrheiten nicht um die nachweisbare Korrespondenz von Sachverhalten und sprachlichem Ausdruck, sondern um die Kohärenz des Konstrukts, wie fadenscheinig und löchrig es auch sein mag. So entstehen fantastische Gespinste.

„Halbwahrheiten – Zur Manipulation von Wirklichkeit“ skizziert die Poetologie eines in mancher Hinsicht „postfaktischen Zeitalters“. Nicola Gess macht kein Hehl daraus, dass soziale Medien eine Kultur des Hörensagens begünstigen, die der fatalen „Multiversionalität“ mal so, mal so berichteter Ereignisse Vorschub leistet. Aber sie ist weit davon entfernt, die Schuld für obskure Mythologeme im Netz zu suchen, das bekanntlich auch aufklärerische Dienste leistet.

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Sie sieht den Grund eher in einem für rechtspopulistisches und verschwörungstheoretisches Gedankengut anfälligen Milieu, das sich von positivistischen Beweislasten erdrückt fühlt: Was die Politik zuweilen als Rechtfertigung alternativlosen Handelns darstellt, lässt sie mit „alternativen Fakten“ aufbegehren.

Nicola Gess rekapituliert einige weithin bekannte Fälle, mit denen sie das ganze Spektrum kursierender Halbwahrheitsstrategien abzudecken versucht. Sie berichtet von den Hochstapeleien des gefallenen „Spiegel“-Reporters Claas Relotius; der als Gesellschaftskritik maskierten Verschwörungsparanoia des Youtube-Stars (und ehemaligen rbb-Moderators) Ken Jebsen; und von den mit dem Gestus „anekdotischer Evidenz“ zusammengetragenen Belegen, die den Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp veranlassten, über einen medialen Meinungskorridor in Deutschland zu klagen.

Die Funktion von Fiktion

Die Leistung dieses Buches besteht nun nicht so sehr darin, dass es mithilfe eines endnotenreichen Apparats noch einmal eine genaue Nachverfolgung sämtlicher Schwindeleien, Gerüchte und haltloser Behauptungen bietet. Es befragt die unvermeidlichen fiktionalen Anteile jeder komplexeren Darstellung auf ihre Funktion hin.

Nicola Gess ist keine naive Faktencheckerin. Sie ist bewandert in allen Aspekten des Fiktionspakts, den Umberto Eco zufolge jeder Text mit seinem Leser abschließt. Mit dem Historiker Philipp Sarasin ist sie sich darin einig, dass Tatsachen in der heutigen Wissenschaftstheorie zwar als „gemacht“ gelten, sie deshalb aber keineswegs „beliebig, bloße Erfindungen, Meinungen oder gar von Lügen nicht zu unterscheiden“ seien. Sie weiß, dass sie ohne angemessene Interpretation und Einbettung in einen erkennbaren Rahmen wenig taugen.

Am wackligsten ist ihre Argumentation, wo sie den Status von Halbwahrheiten aus Theodor W. Adornos Begriff von Ideologiekritik herzuleiten versucht, ohne dass es dieses Weges bedurft hätte. Es trifft zu, dass Adorno schon vor über einem halben Jahrhundert nach wie vor gültige Beobachtungen zu rechtspopulistischen Umtrieben in der Bundesrepublik anstellte: Das aus einem Vortrag transkribierte Bändchen „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ wurde vor zwei Jahren zum Bestseller.

Das Faktische als Norm

Einleuchtend auch, wie aus einem „Gesellschaftszustand, in dem das Faktische zur neuen Norm geworden ist“, so Gess Adorno paraphrasierend, ein „technokratischer Positivismus“ erwächst, „dem mit der bürgerlich-liberalen Ideologie die Perspektive auf jede das bloße Bestehende transzendierende Wahrheit abhandengekommen“ ist. Die Folge ist ein relativistisches und zynisches Wahrheitsverständnis.

Das Problem, das sich hier nur andeuten lässt, besteht darin, dass Adorno in der „spätkapitalistischen“ Massenkultur etwas Totalitäres erkannte. Dieses quasi Undurchdringliche machte ihn zwar nicht zum Verschwörungstheoretiker, doch zum kulturkritischen Verblendungsdiagnostiker, der, eine emphatische Wahrheit vor Augen, den Schleier von den Dingen reißen wollte. Gess deutet die gefährliche Nähe und die abgrundtiefe Distanz von Verschwörung und Verblendung nur unzureichend an.

Davon abgesehen analysiert sie dicht, aber verständlich, eine Entwicklung, die sich kaum mehr rückgängig machen lässt, gegen die man sich aber intellektuell wappnen kann. Die „Halbwahrheiten“ demonstrieren, wozu eine im Wettbewerb der Disziplinen manchmal für obsolet erklärte Literaturwissenschaft in diesen politisch aufgeheizten Zeiten in der Lage ist.

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