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An den Weggabelungen mit Robert Johnson. Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes, 49.

© imago/Agencia EFE

"Vernon Subutex 2" von Virginie Despentes: Neue Gruppen warten schon

Kurz vor der Erlösung, zwischen Hippietum und Rave: Der zweite Teil von Virginie Despentes’ Romantrilogie über „Vernon Subutex“, der nicht Gott ist, aber zu einem Heilsbringer wird.

Wer bislang nur den ersten Band von Virginie Despentes’ Pariser Romantrilogie über „Das Leben des Vernon Subutex“ gelesen hat, dürfte sich bei der Lektüre bisweilen gefragt haben, wieso eigentlich ausgerechnet dieser Vernon Subutex zur Titelfigur geworden ist, jener einstige Plattenladenbesitzer, der irgendwann obdachlos auf den Pariser Straßen landet.

Vernon Subutex findet auf seinem Weg nach unten zwar zunächst noch manches Bett bei früheren Freundinnen und Freunden. Doch ihr Paris von der anderen Seite der Nacht bevölkert die 1969 geborene französische Schriftstellerin Virginie Despentes schnell mit vielen anderen Figuren, die Vernon Subutex mitunter nur vom Hörensagen kennen und eine genauso wichtige Rolle in diesem Roman spielen. Zum Beispiel die junge Muslimin Aïsha, die zum Islam konvertiert ist, als sie von der Pornofilm-Karriere ihrer Mutter erfuhr. Oder ihr Vater Sélim, ein Universitätsdozent, der aus dem Maghreb stammt und ganz einverstanden mit den westlichen Werten ist. Oder brasilianische Transvestiten, Cyber-Mobberinnen, Journalistinnen und und und.

Nun, da auch der zweite Teil ins Deutsche übersetzt worden ist (der letzte Band erscheint hierzulande Anfang September), wird die Titelwahl verständlicher. Vernon Subutex beginnt charakterlich zu schillern. Er ist zwar nicht größer als Gott, entwickelt sich aber zu einer Art Heilsbringer, zumindest zu einer integrativen Figur. Er versammelt nicht nur eine Schar von quasi Jüngern und Jüngerinnen um sich, sondern bringt diese sogar zum Tanzen. Oder, um es mit einer gewissen Gaëlle zu sagen, die ihn nicht so mag und seine Freunde und Freundinnen als „fröhliche Heterospießer“ bezeichnet: „Wir haben die Krise, er ist nicht mehr der Jüngste, er hat keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Aber trotzdem, zwanzig Jahre im Laden, da musst du doch genug Leute kennen, um nicht nach ein paar Monaten im Park zu pennen. Und wie hat sich dieser nette, aber in Sachen Charisma kurz über einem weichen Kürbis stehende Kerl zum Idol der Buttes-Chaumont gewandelt. Er schläft draußen, stinkt nach Schweiß und trägt Cowboy-Stiefel, aber man könnte glauben, das Jesuskind habe die Etappe mit dem Kreuz übersprungen! In einem Gedränge heiliger Könige empfängt er jeden Tag seine Geschenke. Vernon sucht sich einen Baum aus, setzt sich darunter, und die Menschen kommen zu ihm.“

Es ist viel los in diesem zweiten Vernon-Subutex-Band

Natürlich unterscheidet sich dieser zweite Band stilistisch und in seiner formalen Struktur her nicht groß vom ersten. Es beginnt wieder mit Vernon Subutex, dieses Mal damit, wie er seinen Stammplatz draußen im Buttes-Chaumont-Park gefunden und seine Gewohnheiten angenommen hat. Überdies wird irgendwann das real existierende Rosa Bonheur zu seiner Stammkneipe und der seiner Freunde (Ob der Laden schon eine Pilgerstätte ist?, fragt man sich, schließlich ist Despentes mit ihrer Trilogie zur Bestsellerautorin geworden. So wie es hier in Berlin kurz nach der Veröffentlichung von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ das Madonna und die Markthalle in Kreuzberg wurden?). Und gleich nach dem Einstieg mit ihrem Titelhelden springt Despentes zu einem Kompagnon von ihm, zu Charles, der einen Lottogewinn macht. Oder zu Emilie, einer Vernon-Subutex-Freundin, die einige Ich-Störungen aufweist und der eines Tages die Bänder gestohlen werden, die Vernon Subutex bei ihr deponiert hat; Bänder, auf denen der verstorbene Popsänger Alex Bleach belastende Aussagen macht. Oder da ist wieder die sogenannte Hyäne, die von dem Filmproduzenten Laurent Dopalet beauftragt wurde, diese gerade für ihn verhängnisvollen Aufnahmen zu finden, was ihr schließlich gelingt.

Geschickt spitzt Virginie Despentes ihre Romantrilogie genau auf die Hälfte hin dramaturgisch zu. Zum einen sucht das Gros ihrer über WhatsApp miteinander verbunden Figuren bewusst die Nähe von Vernon Subutex. Zum anderen entschließt sich die Hyäne, die Bänder mit den Bleach-Enthüllungen nicht Dopalet zu geben, sondern der Vernon-Subutex-Anhängerschaft wie bei einer Filmvorführung zu präsentieren, auf dass alle ihre eigenen Schlüsse ziehen mögen. Denn: „Die Hyäne gehört zu der seltenen Kategorie von Hartgesottenen, die mit einem Schlag von der Gefühlsduselei eingeholt werden, als würde eine Rüstung von der dünnen Haut abplatzen.“

Es ist also viel los in diesem zweiten Vernon-Subutex-Band, und Despentes ist eine gute Plotterin. Allerdings fragt man sich dieses Mal hin und wieder bei der Lektüre, warum ihr Pariser Sittengemälde gleich drei Teile haben muss? Und ob es sich noch einmal weitet? Das nämlich tut es nicht. Das Personal ist bekannt, die eine oder andere Figur, so wie Céleste oder Xaviers Frau Marie-Ange bekommen eigene Kapitel, und mit dem Fahrradkurier Loïc wird eine weitere Figur intensiver als zuvor porträtiert, um sogleich einen tödlichen Abgang zu bekommen. Die Konturen der meisten von Despentes’ Protagonisten und Protagonistinnen werden nicht unbedingt schärfer. Weiterhin stecken sie wort- und gedankenreich in ihren Lebensproblematiken, von denen eine ganz sicher der schwierige Umgang mit dem Alter ist.

Schön, schnell und non-chalant kriecht Virginie Despentes in ihre Figuren

Was einmal mehr auffällt: Wie gut Virginie Despentes sich in einzelnen Szenen und Subszenen auskennt. Wie sie eine immer diverser werdende urbane Gesellschaft in den Blick zu nehmen versteht, inklusive der Teile, die einerseits in rechte, andererseits in religiöse Gefilde abdriften. Und doch drängt sich der Eindruck auf, gerade weil in Frankreich und auch hierzulande gern der Vergleich mit Balzac gezogen wurde, dass Despententes’ Gesellschaft vielleicht eine Spur zu individualistisch, zu szenistisch ist. Alle kennen hier ihren Robert Johnson und seine Crossroads, sind dick mit Bertrand Burgalat, The Jam oder Daft Punk; alle spüren, dass es hier draußen, wo es keine Mitte mehr gibt, keine Zuflucht, wo alles den Bach runtergeht, immer kälter und brutaler zugeht; und nicht zuletzt haben ein paar der jüngeren Frauen die Romane von Stieg Larsson und die Filme von Abel Ferrara sehr genau studiert.

Um die Dimension einer menschlichen Komödie zu bekommen, könnte Despentes’ Trilogie ein paar mehr schlecht gelaunte Homo- und Heterospießer vertragen, ein paar mehr Durchschnittsmenschen, gerade in einer Stadt wie Paris, in deren inneren Bezirken die Gesellschaft eine recht geschlossene ist.

Doch was soll das Gemaule? Es ist ein großer Spaß, auch diesen Roman zu lesen, so schön, schnell und non-chalant Despentes in ihre Figuren kriecht. Wie in Loïc mit seinem Spießerhorror: „Das ist noch nie gut gegangen. Schon als er klein war, verboten die reichen Eltern ihren Kindern, ihn einzuladen. Dabei war er gut erzogen, aber die Eltern mochten ihn nicht. Man merkte ihm einfach an, was er war: ein verdammter Armer. Seine Mutter wog hundertdreißig Kilo. Man beschimpfte sie auf der Straße heraus: Fettsau.“

Ach, ja, und was passiert mit Vernon Subutex, diesem seltsam charismatischen Gruppenguru „without a cause“. Er lässt sich treiben von seinen Pamela Kants, Hyänen und den anderen, landet mit ihnen erst in den Vogesen und dann auf Korsika, dabei oft die Hände an den Plattentellern. Hier ein Hippie-Leben, dort ein Rave, und im dritten Teil winken womöglich echte menschliche Wärme – und die Erlösung.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 395 Seiten, 22 €.

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