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Höhere Mächte diktieren mir. Kae Tempest 2020 beim Music Festival von BBC Radio 6 im Londoner Roundhouse.

© picture alliance / Photoshot

"Verbundensein" von Kae Tempest: Alles geschieht durch dich

Kae Tempest hält in einem neuen Essay ein temperamentvolles Plädoyer für das gesellschaftliche Verbundensein.

Schauspieler haben kein Publikum, Musikerinnen keine Konzerte, DJs jobben in Impfzentren, niemand feiert, keiner tanzt. Harte Zeiten, viel Grund zu klagen. Oder man macht es wie Kae Tempest. Man schießt eine Salve Energie in den Orbit und hofft, dass sie irgendwo ankommt. Es ist schon erstaunlich, wenn ein Essay, der vom Schreiben, Auftreten, Rappen, Kreativsein erzählt, tatsächlich Energie überträgt. Aufgebaut wie ein Gig, animiert „Verbundensein“ dazu, mitzugehen.

[Kae Tempest: Verbundensein. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.140 Seiten, 12 €.]

Wie erreicht man andere, damit etwas Gemeinsames entsteht? Wann fühlt es sich gut an? Wieviel ist Handwerk, und was ist mit der Gunst des Augenblicks? Es gibt eine Menge Dinge, die das Nachdenken lohnen, wenn man ohnehin zuhause festsitzt. Zeit der Selbstprüfung, Zeit der Besinnung, auch und vielleicht gerade für jemanden wie Tempest, 1985 als Kate Esther Calvert in London geboren, im Zeichen Shakespeares unter Strom stehendes Ausnahmetalent, schon lange erfolgreich unterwegs unter dem Namen Kate Tempest, mit einer Ausstrahlung, die in ihrer Mischung von Vehemenz und Schüchternheit an Janis Joplin erinnert.

Als Spoken-Word-Poetin hetzte sie von Auftritt zu Auftritt, manchmal waren es vier verschiedene Auftritte an einem Abend. Doch insgeheim verachtete sie die Szene, wollte lieber Musikerin sein – und blickt im Nachhinein selbstkritisch auf die eigene Überheblichkeit.

Charakter und Charisma

Tempest rappt ganze Gedichtzyklen, die in ihrem Atem und Ausdruckswillen an T.S. Eliots „The Waste Land“ erinnern, etwa das 75-minütige Langgedicht „Brand New Ancients“, ausgezeichnet mit dem Ted Hughes Award, oder „Let Them Eat Chaos“. Man kann sich das im Netz ansehen. Selbst am Bildschirm erkennt man Tempests Präsenz, seit August letzten Jahres nicht mehr Kate, sondern Kae, als Zeichen nichtbinärer Geschlechtsidentität.

Es geht um Verausgabung und Ekstase, um Alkohol, Drogen, Sex und Essen, es geht um das ständige Hadern mit dem eigenen Körper, um die Überlegung, was andere sehen. Es geht um Panikattacken vor dem Auftritt und die verblüffende Beobachtung, angstgepeinigt in einem Hauseingang auf der Oxford Street zu sitzen, um beim Radiointerview kurze Zeit später doch zu funktionieren. „Sozialer Druck ist schon ein Wahnsinn.“

Kae Tempest mischt Blake und Beckett, bedient sich bei der Mythologie, bei Shakespeare und C. G Jungs „Rotem Buch“. Nichts ist wirklich neu, einiges könnte man ideologiekritisch hinterfragen. Aber da gibt es den genauen Blick auf South East London, das Wissen um die eigenen Privilegien als fünftes Kind einer weißen Mittelschichtsfamilie, das sich Raum für Experimente an der Schmerzgrenze nehmen kann, und vor allem gibt es ein Gespür dafür, dass Kunst nichts, aber auch gar nichts ist, wenn sie nicht im Dreieck zwischen Autor*in, Text und Leser*innen auf allen Seiten von Leben durchpulst wird.

Im Gefängnis oder bei der Modenschau

Manchmal funkt es, und manchmal funkt es nicht. An jedem Auftritt, mal im Frauengefängnis Holloway, mal bei einer Modenschau von Louis Vuitton, ist das Publikum beteiligt, so verschiedenartig die Zuhörenden auch sein sollten. Wer oben auf der Bühne nicht damit rechnet, dass die unten mitgehen, hat keine Chance. „Es geschieht durch dich, nicht wegen dir.“

„Verbundensein“ (On Connection) begründet auch eine kleine Privatmythologie. Anfang 2016, völlig erschöpft von der US-Tournee mit ihrem ersten Solo-Album, „Everybody Down“, während der ihr erster Roman „The Bricks that Built the Houses“ erschienen war, deprimiert vom Ausmaß der Obdachlosigkeit, begegnete Tempest in einem Park in Portland, Oregon, einem obdachlosen älteren Mann. Seit er 17 war, trug er ein Taschenbuch mit den Gedichten von Derek Walcott bei sich. Es verbinde ihn mit seiner Kindheit, es tröste ihn und gäbe ihm das Gefühl, „ein Mensch“ zu sein. „Verbundensein“ gehe im Grunde auf diese Begegnung zurück, behauptet Tempest.

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Welche Wirkung eine Spoken-Word-Performance haben kann, zeigte zuletzt Amanda Gormans Auftritt bei der Inauguration von Joe Biden und Kamala Harris. Dass da nicht nur Worte im Spiel waren und eine bis ins Detail geplante Inszenierung, sondern auch Projektionen und der kollektive Wunsch nach Veränderung ist offensichtlich, sobald man den Text mit der Wirkung des Auftritts vergleicht.

Kae Tempests Essay zeigt Demut dem Schaffensprozess gegenüber, aber auch in Hinsicht auf die Bedeutung jedes einzelnen Menschenlebens. „Ich liebe Menschen sehr“, heißt es einmal. Das kann man für ein Klischee halten. Für eine*n Schriftsteller*in mit Hiphop-Background ist das eine gute Voraussetzung.

Meike Feßmann

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