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Wolfsmann Fulvio (Claudio Santamaria), Insektenflüsterer Cencio (Pietro Castellitto) und der magnetische Mario (Giancarlo Martini) sind drei Viertel der „Fantastic Four“.

© Festival

Venedig Tagebuch (6): Fifty Shades of Lido

Das Filmfestival offenbart auch die Eigenarten der Lagunenbewohner. Und im Wettbewerb kämpfen Zirkus-Superhelden gegen Nazis.

Von Andreas Busche

Als Außenstehendem erschließen sich die Eigenarten der Venedig-Bewohner nur langsam. Für die Touristen setzen der Venezianer und die Venezianerin gewöhnlich ein freundliches Gesicht auf, das war vor der Pandemie schon so.

Diese unverbindlich-professionelle Attitüde kennt keine regionale Herkunft, auf die man sich in Venedig sonst viel einbildet. Damit ist wohlgemerkt nicht der Unterschied zwischen den Menschen aus Venedig und Treviso gemeint, sondern zwischen „Festland-Venezianern“ (ein Begriff, mit dem man garantiert den gerechten Zorn der Einheimischen in den Vierteln San Marco, Cannaregio und Dorsoduro auf sich zieht) und den Insel-Bewohnern auf Murano, Burano und dem Lido.

Eine morbide Schönheit steckt in der Patina der Bürgerhäuser

Seit auf Murano ein Hyatt-Hotel ins Gebäude einer alten Glashütte gezogen ist, hat sich auch die historische „Glasinsel“ dem Tourismus geöffnet und sich in ein wahres Mini-Venedig verwandelt. Billige Importware aus China und traditionelle Handwerkskunst: Auf Murano bekommt man in den Geschäften entlang der Kanäle denselben Glas-Nippes einmal für vier und einmal für 18 Euro.

Mit dem Vaporetto dauert die Überfahrt von San Marco zwar keine zwanzig Minuten, aber den Einheimischen ist die Herkunft immer eine Bemerkung wert, wie mein Vermieter erklärt. „So, so, aus Burano“, bekommt man schon mal von einem stolzen Murano-Bewohner zu hören. Mein Vermieter ist Argentinier, lebt aber schon lange auf dem Lido, solche feinen Unterschiede entgehen ihm da nicht.

Wobei auch die echten Murano-Bewohner unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden, was historisch mit dem Glashandwerk zu tun haben soll. Wegen dieses Geheimwissens lebte man auf der Insel lange „unter sich“. Da bleiben einem die üblichen Witze wohl nicht erspart.

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Dafür zehrt der Lido, früher das Urlaubsresort der Reichen, immer noch von seinem alten Glanz. Eine morbide Schönheit steckt in der Patina der Bürgerhäuser, die viel mit Thomas Manns „Tod in Venedig“ (und Viscontis Verfilmung) zu tun hat – der ja eigentlich ein „Tod am Lido“ ist. „Tod in Venedig“ lautet, genau genommen, das Thema von Nicolas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“. Lido und Kino – heute sind sie wenigstens noch an zwei Wochen im Jahr untrennbar.

Das Wetter arbeitet dieses Jahr der Melancholie eines ausklingenden Sommers mächtig entgegen. Und auch das Festival stemmt sich mit dem italienischen Superheldenfilm „Freaks Out“ von Gabriele Mainetti gegen vorzeitige Ermüdungserscheinungen. Die Reputation der Superhelden wurde auf dem Lido ja schon durch den Goldenen Löwen für „Joker“ aufgewertet; in diesem Jahr gibt es in Ana Lily Amirpours „Mona Lisa and the Blood Moon“ zudem eine junge Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten (Jeon Jong-seo).

Das Motiv der sozialen Außenseiter spielt „Freaks Out“ aber kurzweiliger durch: mit überbordender, blutiger Fantastik, die an den Löwen-Gewinner Guillermo del Toro erinnert. Im Italien der vierziger Jahre kämpft eine Zirkustruppe, darunter ein Chewbacca und ein „elektrisches Mädchen“, gegen einen durchgeknallten Nazi mit zwölf Fingern (Franz Rogowski).

Kaum vorzustellen, dass Jury-Leiter Bong Joon-ho an diesem Kintopp keinen Gefallen findet. Es wäre auch ein wirkungsvolles Gegengift gegen den Minderwertigkeitskomplex des italienischen Kinos.

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