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Wasserglück. Die Gondolfiere Elena Almansi kann während der Pandemie die Ruhe in der Lagune genießen.

© Film Kino Text

Venedig in der Pandemie: Die unerträgliche Schönheit der Lagune

Ein Sohn sucht seinen Vater: Andrea Segres sehr persönlicher Dokumentarfilm „Moleküle der Erinnerung“ führt in das stille Venedig der Pandemie.

Ein Buch schreiben, einen Film drehen über Venedig, das geht eigentlich nicht mehr. Und wer es doch unternimmt, steht in der endlosen Reihe bekannter Elegien und Schwärmereien, Klischees und Insiderblicke. Venedig verführt zur Wiederholung. Doch dann kam Andrea Segre. Dann kam das historische Hochwasser im November 2019. Auf dem Markusplatz stand den Menschen das Wasser bis zu den Hüften, von „Wellen“ der Katastrophe war die Rede, in unheimlicher Vorahnung der Pandemie. Das Virus brach in Norditalien 2020 früh und heftig aus.

Segres poetischer und sehr privater Dokumentarfilm „Moleküle der Erinnerung“, uraufgeführt bei den Filmfestspielen am Lido, stellt die Ausnahme jener Regel dar, dass alles über Venedig gesagt sei, und auch schon sehr oft. Der Künstler ist in der Geburtsstadt seines Vaters, um dem Verstorbenen näher zu kommen. Ulderico Segre war herzkrank, ein schweigsamer Mann, ein Molekularforscher, daher der Filmtitel.

Der Vater hat Super-8-Filme hinterlassen, Familienaufnahmen und Bilder eines Venedigs noch ohne Massentourismus. Im Gegenschnitt zieht Andrea Segre durch die Lagune im Lockdown, gefangen in Erinnerungen, gebannt von der Leere der Plätze, der Kanäle, wo sich kaum ein Boot zeigt. Das Wasser wirkt wie ein Spiegel, der die Psyche öffnet. Die Seele einer bedrohten Stadt, das Innenleben eines auch schon bald 50-jährigen Künstlers.

Der Vater, mit dem ein Gespräch kaum möglich war, und die Paläste, gehüllt in Stille und unheimliche Schönheit. Die Wellen des aqua alta und der Covid-Pandemie, die aufsteigenden Fragmente einer Kindheit, Fragen an sich selbst und den Erzeuger, dem der Mund verschlossen war. Andrea Sagres Filmessay gleicht einem Brief an den verlorenen Vater, an sich selbst.

Die Stimme des Regisseurs aus dem Off – er ist kaum einmal im Bild – trägt den ruhigen, eindringlichen Rhythmus der „Moleküle“, mit der melancholisch gestrichenen Musik von Teho Teardo. Ist dieses überraschende Wunderwerk wirklich nur siebzig Minuten kurz?

Erfüllung in der Ruhe und Einsamkeit

Es tauchen Menschen auf, Gesprächspartner, die wie die letzten Bewohner Venedigs in Szene gesetzt sind. Ein Fischer von Vignole, einer kleinen Insel in der Lagune, er ist allein unterwegs mit seinem Boot und seiner Angel, vielleicht ein glücklicher Mensch. Eine junge Frau, die mit ihrer Gondel durch den verwaisten Canal Grande stakt, wird zum Sinnbild der „Moleküle“.

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In normalen Zeiten zeigt Elena Touristen, wie man sich auf Venedigs Wasserstraßen bewegt. Nun hat sie keine Arbeit, findet aber Erfüllung in der Ruhe und Einsamkeit ihres Heimatortes, der sich noch intensiver als sonst selbst reflektiert. Elenas Freundin Giulia hat eine Wohnung im Erdgeschoss, wobei da eben keine Erde ist, sondern Wasser, schlimmes Hochwasser. Sie will bleiben.

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Segres Thema ist die Einsamkeit, von der eine unerwartete Kraft ausgeht. Es ist nicht so, dass er nach den guten Dingen suchte, die man in der Pandemie finden kann, nach der Lehre aus der Leere. Es kommt etwas über ihn, ein Wissen über den Vater, über die eigene Geschichte, er ist unendlich vorsichtig bei dem Versuch, den neuen Einsichten einen Namen zu geben.

(In sieben Berliner Kinos, OmU)

Ulderico Segre las leidenschaftlich Albert Camus. In den Büchern des Franzosen, dem „Fremden“ vor allem, fand er einen Schlüssel zum Leben, zur Sterblichkeit. Nicht unbedingt Schicksalsergebenheit oder Defätismus, vielmehr Respekt vor dem Unvermeidlichen. Darauf bewegen sich die Sätze Andrea Segres zu, die unfassbar klaren Bilder des Wassers und des Himmels. Venedig, heißt es hier, zeige so seine Verletzungen, seine Verletzlichkeit. Wie die Menschen.

Es ist eine feine Hommage geworden – die Stadt, die leisen Wellen, die Gedanken des Regisseurs, der nach dem Geheimnis seines Vaters forscht, so wie Venedig immerzu um sich selbst kreist. Plötzlich steht das Wasser ungewöhnlich niedrig, was das Brüchige der Ansiedlung nur noch deutlicher zeigt. Ein Kind schaut aus dem Fenster in der Wohnung auf der Giudecca, wo Andrea Segre im Lockdown sitzt. Draußen ist niemand, drinnen steigt die Flut.

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