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Im Angesicht des Bösen. Der 14-jährige Vijar (Jonas Strand Gravli) sitzt im Gerichtssaal seinem Angreifer gegenüber.

© Erik Aavatsmark/Netflix

Utøya-Film "22. Juli" auf Netflix: „Wir können von Norwegen lernen“

Wie geht man mit rechtem Terror um? Paul Greengrass sucht mit seinem Breivik-Film „22. Juli“ Antworten. Ein Interview mit dem englischen Regisseur.

Von Andreas Busche

Innerhalb weniger Wochen starten zwei Filme über Anders Breiviks Terroranschlag im Jahr 2011 auf ein Feriencamp auf der norwegischen Insel Utøya. Erik Poppes „Utøya 22. Juli“, mit Handkamera in einer fortlaufenden Einstellung gedreht, läuft bereits seit Mitte September in den Kinos, jetzt ist „22. Juli“ von Paul Greengrass auf Netflix zu sehen. Die beiden Filme behandeln Traumata auf sehr unterschiedliche Weise. Im Interview spricht der englische Regisseur Paul Greengrass über den erstarkten Rechtspopulismus in Europa und politisches Actionkino.

Mr. Greengrass, Sie haben mit Ihren „Jason Bourne“-Filmen einen sehr kinetischen Stil im Actionkino geprägt: viel Handkamera, immer mitten im Geschehen. „22. Juli“ ist dagegen sachlicher, distanzierter, ganz im Gegensatz zum Utøya-Film ihres norwegischen Kollegen Erik Poppe.

Ich weiß über Erik Poppes Film, den ich bisher leider nicht sehen konnte, lediglich, dass er nur den Angriff auf das Jugendcamp auf Utøya zeigt und Breivik selbst gar nicht zu sehen ist. Mir war von Anfang an klar, dass man das Thema anders angehen muss. Mein Film sollte das Publikum nicht in die Ecke drängen. Die Ästhetik meiner drei „Bourne“-Filme kann sich da leicht als künstlerische Sackgasse entpuppen.

Haben Sie deswegen an „22. Juli“ nicht mit Ihrem bewährten Team, dem Kameramann Barry Ackroyd und Editor Christopher Rouse, gearbeitet? Gemeinsam haben Sie Ihren „Action“-Stil ja perfektioniert.

Ich wollte etwas Neues ausprobieren, das gibt einem schon der Stoff vor. Eine wahre Geschichte wie „22. Juli“ muss man zurückgenommen erzählen. Ich zeige drei Perspektiven: die der Regierung, die von Breiviks Anwalt und die der Familie eines Opfers, des 14-jährigen Viljar Hanssen. Ich hatte einfach Lust, mal eine andere Musik zu spielen. Abgesehen davon war es mir wichtig, mit einer norwegischen Crew zu arbeiten.

Was hat Sie an Breivik interessiert?

Das Thema meines Films ist, wie Norwegen auf diesen rechten Terror reagierte. Das Land musste plötzlich für seine Demokratie kämpfen. Irgendwie ist die Geschichte Norwegens 2011 auch die Geschichte Europas heute. Wir können von Norwegen viel lernen.

Sehen Sie Breivik als einen Vorreiter des Rechtspopulismus, der seit einigen Jahren in Europa zunimmt?

Sie müssen ja nur auf Ihr eigenes Land schauen, wo die AfD und die noch radikalere Junge Alternative antidemokratische Positionen vertreten. Diese Parteien stellen, über den ganzen Westen verstreut, eine Herausforderung liberaler Normen dar. Dass es diesen Rechtsterrorismus gibt, wissen wir. Die Frage, die sich stellt, lautet: Wie gehen wir mit dieser Bewegung um? Norwegen ist eine Lektion in politischem und zivilem Widerstand. Das Gericht gab Breivik eine Bühne, so unerträglich das, was er sagte, auch war. Aber es ermöglichte den jungen Menschen, sich ihm emotional, moralisch und intellektuell entgegenzustellen. Es wäre gefährlich, diese Strömungen zu ignorieren.

In Venedig, wo „22. Juli“ gerade Premiere hatte, lief auch der Dokumentarfilm „American Dharma“ über Steve Bannon. Der Regisseur Errol Morris wurde kritisiert, dass er Bannon so viel Redezeit gewährt. Halten Sie es denn für erkenntnisreich, diese kruden Ideologien ernstzunehmen?

Diese Frage hat mich natürlich auch beschäftigt. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass man die Argumente dieser Leute zumindest hören sollte. Jens Stoltenberg, der damalige Ministerpräsident, sagt im Film zu einem Mitarbeiter, der Breivik am Telefon hat: „Sagen sie ihm, dass ich zuhöre.“ Kämen Breiviks Ansichten von der gesellschaftlichen Peripherie, könnte man sie leicht als Spinnerei abtun. Aber die Stichworte, die er vor Gericht benutzte – Betrug der Eliten, Scheindemokratie, erzwungener Multikulturalismus – haben längst ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden. Auch Steve Bannon hätte mit Breiviks Argumenten heute kein Problem.

Glauben Sie, dass die amerikanische Alt.Right-Bewegung sich ähnlich radikalisieren könnte wie Breivik?

Das nicht, aber das Gedankengut ist dasselbe. Darum geht es „22. Juli“: An Breiviks Schuld bestand juristisch kein Zweifel. Die Frage, mit der sich Norwegen 2011 unter schwierigsten Umständen auseinandersetzen musste, war: Soll man Breivik die Möglichkeit geben zu reden? Wenn er sich verteidigt, kann er den öffentlichen Diskurs weiter lenken. Verweigert man ihm das Recht zu reden, bestätigt das nur sein Narrativ. Das Gericht löste dieses Dilemma klug. Es gab Breivik ein Forum, schuf gleichzeitig aber eine Situation innerhalb des rechtlichen Rahmens, in der Überlebende, junge Menschen, ihren Angreifer konfrontieren konnten. Seiner Ideologie wurde noch im Gerichtssaal Paroli geboten.

Sie setzen viel Vertrauen in die Jugend.

Nehmen Sie den Brexit in meinem Land. Der Streit um die EU-Mitgliedschaft hat die alten Fragen von Identität und Nationalismus wieder populär gemacht. Heute wissen wir, dass die Wahlbeteiligung junger Menschen von allen Altersgruppen am niedrigsten war. Dabei sind sie die vehementesten Befürworter der EU. Nur sind die Jungen einfach nicht wählen gegangen. Ich glaube, diese Lektion haben sie jetzt gelernt.

Haben Sie sich für Netflix entschieden, um ein jüngeres Publikum zu erreichen?

Absolut. Wir sind uns mit Netflix aber auch einig gewesen, dass der Film in Kinos gezeigt wird. Ich drehe Kinofilme.

Auch Ihr Film „United 93“ handelte von einem nationalen Trauma, dem Anschlag auf das World Trade Center. Wie viel Zeit muss vergehen, um so eine Geschichte zu erzählen? Bei „United 93“ waren es fünf Jahre, bei „22. Juli“ sind es sieben.

Die Frage können die Menschen, die von den Anschlägen betroffen waren, besser beantworten. Viljar Hanssen, der in die Dreharbeiten involviert war, hat das Projekt unterstützt. Er weiß am besten, wie traumatisierend so ein Anschlag ist. Man muss sich als Filmemacher bloß vergegenwärtigen, dass man nie die ganze Geschichte erzählen kann. Es entstehen Filme, Bücher, Dokumentationen, Romane, Theaterstücke, die Gesellschaft versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, die Bedeutung und die Konsequenzen dieses Traumas zu begreifen. Ich habe einen Aspekt fokussiert, der mir wichtig war – und versucht, mit den Gefühlen der Menschen so respektvoll wie möglich umzugehen.

Sie haben mit einer Figur wie Jason Bourne dazu beigetragen, dass Actionfilme heute gebrochener, zweifelnder wirken. Taugt das Actionkino überhaupt noch zur Heldenerzählung?

Ich glaube, Actionfilme bilden einen gesellschaftlichen Wandel ab. Geopolitik ist heute aufgrund technischer Entwicklungen viel dynamischer und näher dran an den Menschen, dadurch aber auch instabiler und nervöser. Das Kino spiegelt diese Beschleunigung wider. Ich finde es allerdings wieder wichtig, innezuhalten und genauer hinzusehen. Wie wird Sinn produziert und zu welchem Zweck?

Sie begannen ihre Karriere als politischer Journalist und Dokumentarfilmer für die BBC. Wie hat diese Erfahrung Sie geprägt?

Ich war immer von der Wirklichkeit inspiriert. In meiner Arbeit suche ich nach Ausdrucksformen, um die Welt um mich herum zu reflektieren. Ich will nicht die öffentliche Meinung beeinflussen, das ist Aufgabe der Politik. Mir geht es vielmehr darum, eine Geschichte so nah wie möglich an der Wahrheit zu erzählen. Das Publikum merkt, wenn es Propaganda aufgesessen ist. Gute Kunst spricht für sich.

Kritiker haben allerdings moniert, dass Ihre norwegischen Darsteller Englisch sprechen. Es widerspräche dem naturalistischen Stil des Films. War das eine künstlerische Entscheidung, ein Verfremdungseffekt, der Distanz zwischen den Darstellern und dem gesprochenen Wort schaffen soll?

Norwegen ist eine zweisprachige Gesellschaft, die Menschen sind es gewohnt, Englisch zu reden. Mir ging es darum, ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Was in Norwegen passiert ist, betrifft auch Deutschland, Schweden, Ungarn, Italien, England und ganz sicher auch die USA. Die fremde Sprache schafft einerseits eine emotionale Distanz, ja, aber sie verleiht der Geschichte auch eine Allgemeingültigkeit.

—Das Gespräch führte Andreas Busche.

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