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Die 18-jährige Kaja (Andrea Berntzen), Protagonistin in "Utoya 22. Juli"

© Weltkino

„Utøya 22. Juli“ im Kino: Die Angst schaut mit

Zwischen perfidem Voyeurismus und Angstlust: Regisseur Erik Poppe erzählt in „Utøya 22. Juli“ den Anschlag auf das Jugendcamp als Horrorfilm.

Von Andreas Busche

Die richtigen Worte für den realen Terror zu finden, ist mit jedem Anschlag eine neuerliche Herausforderung. Weihevoll, ohne gleich staatstragend zu klingen; emphatisch, auch wenn die Anlässe in den vergangenen Jahren zunehmen. Noch schwieriger ist die Fragen zu beantworten, wer die Deutungshoheit über die Bilder der individuellen Traumatisierungen hat, wenn gleichzeitig ein ganzes Land unter Schock steht.

Vom 22. Juli 2011, als im Osloer Regierungsviertel eine Bombe detonierte und wenige Stunden später ein als Polizist verkleideter Attentäter auf der norwegischen Ferieninsel Utøya Jagd auf die Teilnehmer eines Jugendcamp der sozialistischen Partei machte, kursieren nur wenige Medienbilder. Es sind in erster Linie Aufnahmen eines zerstörten Gebäudes – und das Gesicht des selbstzufriedenen Täters im Gerichtssaal, der seine „Mission“ schon durch das Medieninteresse als vollen Erfolg betrachten kann.

Der norwegische Regisseur Erik Poppe versucht mit „Utøya 22. Juli“, diesen Bildern andere Gesichter, eine andere Perspektive, eine andere Erfahrung gegenüberzustellen. Er versteht wohl, dass die Todesangst im Kino nur abstrakt erfahrbar ist, doch seine filmischen Mittel zeugen auch von einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Das Gesicht in „Utøya 22. Juli“ gehört der 18-jährigen Kaja (Andrea Berntzen). Fast beiläufig tritt sie aus dem Wald vor die Kamera, spricht direkt zum Publikum: „Das wirst Du nie verstehen. Hör mir einfach mal zu!“ Doch es ist nur eine Finte. Kaja spricht nicht zum Publikum, sie hat ihre Mutter am Ohr. Der Blick in die Kamera ist vielmehr ein „Zufall“, was im Kino natürlich nur eine Illusion ist.

Gefühl des Ausgeliefertseins

Zufälle gibt es im Kino nicht. Jede Entscheidung unterliegt einem Skript, einem Storyboard, einer Autorenschaft. „Utøya 22. Juli“ ist im Modus der Unmittelbarkeit gedreht: Der Parcours, den das Mädchen während des 70-minütigen Amoklaufs zurücklegt, führt es über Stock und Stein, immer wieder weg von den lauter werdenden Schüssen, vor denen die Jugendlichen panisch fliehen. Die Bewegungen des Attentäters geben auch die Fluchtbewegungen vor. Dass „Utøya 22. Juli“ in Echtzeit spielt, erweist sich dabei ebenfalls als eine filmische Illusion: Die Plansequenz wurde nachträglich montiert, um dem Geschehen Dringlichkeit zu verleihen. Doch die Mobilität der Kamera ist eine Absolutheitsgeste, sie unterwirft den realen Terror wieder einer dramatischen Form.

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Erik Poppe beginnt seinen Film ebenfalls mit Bildern aus Oslo, mehrere CCTV-Kameras haben die Explosion im Regierungsviertel festgehalten. Doch sein Blick auf die Ereignisse auf Utøya ist verengt. Aus dieser beschränkten Perspektive bezieht der Film seine Dramaturgie, die bis zu einem bestimmten Punkt sogar aufgeht. Der erste Knall in „Utøya 22. Juli“ ist die Explosion eines Feuerwerkskörpers, die Schreie Ausdruck jugendlichen Übermuts. Poppe arbeitet von Beginn an mit den Mitteln der Suspense – und wie schon in der ersten Szene nimmt er sich gleich wieder zurück. Kaja ermahnt ihre jüngere Schwester Emilie, Respekt gegenüber den anderen Campteilnehmern zu zeigen. Die Nachricht vom Anschlag hat die Insel bereits erreicht, auf der die Kinder dem Attentäter ausgeliefert sind. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins versucht der Film auch dem Publikum aufzuzwingen.

Kein Ort für therapeutische Maßnahmen

Man muss dem Regisseur abnehmen, dass er „Utøya 22. Juli“ für die Opfer gedreht hat. Sie bekommen eine Geschichte, ein Gesicht. Der Täter bleibt eine schemenhafte Gestalt, eine Art „Boogeyman“. Aber das Kino ist selten der richtige Ort für therapeutische Maßnahmen. Die ersten zwanzig Minuten versucht sich Poppe noch an einer Psychologie der Jugendlichen, die sich nach den ersten Schüssen über die Insel zerstreuen, auf der Flucht aber immer wieder zusammenfinden. In den Gesprächen über den Anschlag in Oslo wird auch das Feindbild des Attentäters deutlich: die norwegische „Elite“, weltoffen, liberal – und deren nächste Generation. Dieses Selbstbild hat seit den Anschlägen stark gelitten. Der junge Migrant Issi sorgt sich, dass der Anschlag von einem Islamisten verübt wurde. Ein anderer macht den Einsatz in Afghanistan für die Radikalisierung des Islam in Norwegen verantwortlich.

Aber die Nachdenklichkeit der Jugendlichen wird schnell zur Makulatur, spätestens wenn die ersten Schüsse fallen und der Film in den „Action-Modus“ umschaltet. In Venedig hatte Anfang September „22. Juli“ vom Action-Regisseur Paul Greengrass Premiere, doch sein kluger Film gibt dem Amoklauf kaum Raum, sondern den Opfern eine Stimme. Bei Poppe dagegen scheint jede Ruhepause nur einen dramaturgischen Zweck zu erfüllen, darum müssen sich seine Protagonisten auch immer zweimal begegnen. In einer Szene legt sich Kaja neben ein tödliches verletztes Mädchen: Im Moment, als es stirbt, ruft die Mutter auf dem Handy an.

„Utøya 22. Juli“ schwankt zwischen diesem perfiden Voyeurismus und der Angstlust des Horrorfilms, was angesichts der Ambitionen Poppes umso mehr überrascht. Den politischeren Film, der auch die Traumata ernst nimmt, hat Greengrass gedreht. Der allerdings wird ab Oktober nur auf Netflix zu sehen sein.

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