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Einzigartiger Stil. In Nell Zinks Prosa wechseln sich ultrakurze Sätze mit verwegenen Nebensatz-Elegien ab.

©  Rowohlt

US-Autorin Nell Zink: Die Vogelflüsterin

Die amerikanische Autorin Nell Zink lebt im brandenburgischen Bad Belzig. Ein literarischer Fläming-Besuch.

Eine Stunde dauert die Fahrt von Berlin ins südliche Brandenburg. Zierlich, in blauen Jeans, um den Mund ein zurückhaltendes Lächeln, steht Nell Zink am Bahnhof von Bad Belzig. Sie sieht genauso aus wie auf den zahlreichen Fotos, nur der Pony ist neu: „Ich habe mir das Haar gestern geschnitten, damit ich besser sehen kann“, sagt sie. Die langen Haare störten sie beim Lesen. Und lesen, das muss sie ständig. Seitdem vor zwei Jahren, da war sie 50, ihr Debüt „The Wallcreeper“ erschienen ist, gehört Nell Zink zu den wohl außergewöhnlichsten zeitgenössischen Autorinnen der US- Literatur. Und zu den gefragtesten. Kürzlich war sie auf dem Literaturfestival in Jerusalem, dann in der Schweiz, demnächst liest sie in Stockholm, am Freitag in Berlin. Die Sonne scheint, und Nell Zink möchte noch im Garten eines Freundes Minze und Rucola pflücken. Leichten Schrittes läuft sie voran.

Bad Belzig ist ein schmuckes Städtchen, eine Therme zieht Touristen an, auch eine Alternativkommune gibt es. Zink wohnt seit einigen Jahren hier. Sie sagt, sie habe sich das Dorf einfach auf der Landkarte ausgesucht, als sie aus Süddeutschland wegzog. Es ging ihr um einen Rückzugsort mit guter Anbindung an Berlin, um Ruhe und eine gewisse Langeweile, ohne die sie nicht kreativ werden könne, so sagt sie.

Das Begehren der Figur Tiffany dreht sich nicht um ein Liebesobjekt, sondern um die eigene Freiheit

Anderthalb Zimmer in der Altstadt, kaum möbliert. Auf ihrer Matratze sitzend, die Kissen im Rücken, das Laptop auf dem Schoß, hat Nell Zink ihr Debüt „Der Mauerläufer“ geschrieben. Der Roman handelt unter anderem von Vogelbeobachtungen und Ökoaktivismus, von Ehe, Seitensprüngen und dem Wunsch nach Kindern. Tiffany, die Ich-Erzählerin, ist eine junge Frau von „singvogelartiger Sexualmoral“, die sich durch ihr Dasein treiben lässt.

Vom Zufall und ihren jeweiligen Männern bestimmt, steht sie in verstörender Distanz zu ihren Beziehungen und dem eigenen Leben. „Nichts tun, außer so tun als ob“, heißt es an einer Stelle über die Beziehung zu ihrem Mann Stephen. Weder Leidenschaft noch Liebe hat beide zusammengeführt, dennoch folgt sie ihm von den USA zunächst nach Bern, dann nach Berlin und Sachsen-Anhalt. Tiffany ist eine Frau, die wider die Prinzipien der modernen Emanzipation handelt. Und doch, oder gerade deswegen, ihren Männern allesamt überlegen ist.

In ihrer Küche kocht Nell Zink Kaffee, dazu H-Milch – einen Kühlschrank habe sie noch nie besessen. Warum Tiffanys Lebensentwurf so verstörend sei?, fragt sie ihrerseits auf eine diesbezügliche Frage. In den meisten Romanen hätten die Frauen Jobs und eine Karriere, ihr Begehren drehe sich immer um Liebe: „Sind sie deshalb unabhängiger als eine Figur wie Tiffany, deren Begehren nicht um ein Liebesobjekt, sondern um die eigene Freiheit kreist?“ In Zinks Roman heißt es dazu: „Sogar Männer über siebzig zogen die Stirn kraus, wenn ich sagte, ich sei meinem Mann von Philadelphia nach Berlin gefolgt. Für korrekt denkende Deutsche war ich ein hirnloses Flittchen.“

Das literarische Schaffen nennt Zink ein "Hobby"

Nell Zink unabhängig zu nennen, wäre grobe Untertreibung. Erwartungen scheinen sie noch nie interessiert zu haben. Ihre Biografie liest sich nicht wie ein „Hin zu“, sondern wie eine Geschichte mit sehr vielen Umwegen. Geboren in Kalifornien und aufgewachsen in Virginia, war Zink Herausgeberin eines kleinen Fanzines, hat in verschiedenen Jobs gearbeitet, zweimal geheiratet, in Israel gelebt, in Tübingen Medienwissenschaft studiert und promoviert. Und sie hat auch noch in einer Band gespielt, Gitarre und Gesang, und für die Reportageagentur „Zeitenspiegel“ als Übersetzerin gearbeitet.

Obwohl sie seit ihrer Kindheit schreibt und demnächst in den USA mit „Nicotine“ bereits ihr dritter Roman veröffentlicht wird, nennt sie ihr literarisches Schaffen immer noch „Hobby“. Damit Geld zu verdienen, daran dachte sie nie. Dass ihre Romane auch veröffentlicht wurden, verdankt sie ausgerechnet Jonathan Franzen. Nach der Lektüre eines Franzen-Textes im „New Yorker“ über Zugvögel im Mittelmeer schrieb die gleichfalls vogelbegeisterte Zink eine Art Gegendarstellung, aus der sich eine Korrespondenz mit Franzen entspann. Franzen, begeistert von der Sprache Zinks, drängte sie, selbst etwas zu veröffentlichen. Halb aus Trotz schrieb Zink daraufhin innerhalb nur weniger Wochen den Roman „The Wallcreeper", der 2014 in einem kleinen Verlag erschien und vom „New Yorker“ in die Liste der 100 wichtigsten Bücher des Jahres aufgenommen wurde. Kurz darauf schon veröffentlichte das renommierte Verlagshaus Ecco Press ihr zweites, 2015 für den National Book Award nominierte Buch „Mislaid“: eine schillernde, gänzlich andere Familiensaga im Stil einer Operette. Für „Mislaid“ hat Nell Zink sich ihrer Kindheit in Virginia erinnert, an Geschichten von Rassensegregation, Geschlechterzugehörigkeiten und social belongings. Auch diesen Roman hat sie in ihrem Zimmer in Bad Belzig geschrieben, neben sich ihr Notizbuch, in das sie kurz vor dem Einschlafen Gedanken notiert, die sie am nächsten Tag weiterentwickelt.

Der Kaffee ist ausgetrunken, der Zug fährt gleich. Noch ein Stückchen läuft sie mit, dann verabschiedet sie sich, dreht um und verschwindet schnell zwischen den Häusern von Bad Belzig.

Nell Zink: Der Mauerläufer. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Überhoff. Rowohlt, Reinbek 2016, 192 Seiten, 19,95 €. Zink liest am Freitag, 24.6., um 0 Uhr beim „Mag Leseclub Festival“, Shakespeare and Sons, Warschauer Straße

Kai Adler

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