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Anschreiben gegen Machtlosigkeit. Parastou Forouhar inmitten einer kalligrafischen Bodeninstallation, die sie 2014 für den Kreuzgang des Klosters San Pedro Mártir im spanischen Toledo schuf.

© dpa/Ismael Herrero

Unruhen im Iran: „Die Proteste richten sich gegen das ganze System“

Gegen soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Bevormundung: Die iranische Künstlerin Parastou Forouhar spricht über die Gründe für die Demonstrationen in ihrer Heimat - und ihre Erfolgschancen.

Frau Forouhar, alle Welt rätselt, wogegen sich die Proteste im Iran genau richten. Ist das ein wirtschaftlicher Protest, ein politischer, ein gesellschaftlicher?
Der Protest geht ganz klar von denjenigen Schichten in der Gesellschaft aus, die über Jahre Perspektivlosigkeit erlebt haben, Arbeitslosigkeit, eine absolute soziale Ungerechtigkeit. Menschen, denen die Löhne nicht ausbezahlt wurden, oder Leute, die von korrupten Finanzinstituten betrogen wurden und ihre Ersparnisse verloren haben. Es gab vor einigen Monaten Arbeiter in einer Fabrik, die für ihre Löhne protestiert haben. Als Strafe hat sie ein religiöser Richter zu Peitschenhieben verurteilt. Solche Spannungen sammeln sich an, dann kommt es zu einer derartigen Explosion.

Zu Peitschenhieben verurteilt?
Ja, und solche Nachrichten gab es immer wieder in den letzten zwei Jahren. Das dringt offenbar nicht in die deutschen Medien durch oder überhaupt an die europäische Öffentlichkeit, weil man in Europa die Hoffnung zu sehr auf die Reformversprechungen der Regierung setzt und dabei nicht guckt, wie die realen Zustände in der Gesellschaft sind.

Sie kritisieren den Blick des Westens – wegen seiner Oberflächlichkeit oder weil man an den Problemen vorbeisehen will?

Ich weiß nicht, woher das kommt. Aber in den letzten Jahren schien es, als ob es eine offizielle Politik gäbe, die sagt, man solle die Reformbewegung im Iran unterstützen. Was diese Bewegung tatsächlich macht, was dieser vermeintlich liberale Präsident in der Realität verändert, da guckt man nicht so genau hin. Die iranische Opposition braucht es aber, dass man genauer hinschaut und umfassender über sie berichtet.

Immerhin hat Staatspräsident Rohani, der den Reformern zugerechnet wird, das Recht auf Demonstrationen im Iran verteidigt. Kann man dem Mann trauen?
Die Bilder aus Iran zeigen eine massive Präsenz der Sicherheitskräfte in den Straßen. Was ist das für eine Freiheit zu protestieren, wenn eine solche Massenpräsenz der Sicherheitskräfte zu sehen ist? Das ist doch nicht ehrlich gemeint.

Wie ist die Rolle der Künstler und Intellektuellen? 2009, als die Grüne Revolte losbrach, waren viele an vorderster Front dabei. Wie äußern sie sich diesmal?
Die jetzige Situation ist anders als die Grüne Bewegung von 2009. Damals lautete die Frage: „Wo ist meine Stimme?“ Es ging um Wahlbetrug, mit dem sich Präsident Ahmadinedschad an der Macht halten wollte. Die damaligen Proteste geschahen innerhalb des Machtsystems, sie hatten Unterstützung und Anhängerschaft in der Mittelschicht und bei den Intellektuellen. Die jetzige Revolte geht viel weiter. Sie kommt aus der Peripherie der Städte, aus Kleinstädten, die nur mit Mühe auf der Landkarte zu finden sind. Das sind Arbeiter und Arbeitslose. Diese Proteste haben einen ganz anderen Charakter.

In vielen iranischen Städten gingen die Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. Dutzende kamen bei den Protesten ums Leben, Hunderte wurden festgenommen.
In vielen iranischen Städten gingen die Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. Dutzende kamen bei den Protesten ums Leben, Hunderte wurden festgenommen.

© AFP

Dennoch: Das Schweigen der Intellektuellen ist sonderbar.
Es gibt vereinzelt Stimmen, die ein Referendum über die Verfassung fordern, damit die Leute sich frei entscheiden können, welche Regierungsform sie wollen.

Ein Referendum, das wohl nie stattfinden wird. Welche Rolle spielt der Islam?
Keine gute. Die Bevormundung der Bevölkerung findet im Namen des Islam statt. Viele Parolen sind gegen den Klerus und die religiösen Führer gerichtet, aber auch gegen den Missbrauch der Religion. Die religiöse Elite hat sich vollkommen vom Volk entfernt. Deshalb lautete eine der Parolen: Ihr seid auf eine religiöse Leiter gestiegen und habt das Volk zurückgelassen.

Die Auspeitschungen sollen auch als eine Art Strafe Gottes gesehen werden. Nach dem Motto: Es ist Blasphemie, sich gegen den Staat zu erheben. Der Vorsitzende des Teheraner Revolutionsgerichts, Moussa Ghasanfarabadi, hat die Aufständischen bereits der „Feindschaft gegen Gott“ bezichtigt.
Das ist ja das Problem. Wenn die Menschen aus Hunger und Not demonstrieren und das dann als Gotteslästerung bezeichnet wird, ist das eine Sackgasse. In dieser Sackgasse befindet sich die iranische Gesellschaft seit Jahren.

Sind die Proteste nur vorübergehend oder steht ein großer Umsturz bevor?
Vorübergehend ist es nicht. Die große Unzufriedenheit, die Hoffnung auf Wandel, die Suche nach etwas anderem ist tief verwurzelt im Iran. Das habe ich immer wieder bei meinen Aufenthalten gespürt. Das Recht auf Selbstbestimmung gegenüber einem solchen System der Bevormundung und Korruption ist nicht zurückzunehmen.

Gibt es Anzeichen der Hoffnung? Woraus schließen Sie das?
Es gibt bei den jetzigen Protesten Parolen wie „Nieder mit der Diktatur“ oder „Nieder mit den religiösen Führern“. Das ist ein Wendepunkt bei den Protesten im Iran. Bisher gab es bei Protestaktionen immer auch Parolen, die den reformistischen Teil des Machtapparats unterstützt haben. Jetzt sind sie nicht mehr zu hören, denn die in ihn gesetzten Hoffnungen wurden enttäuscht. Dafür gibt es eine andere Parole: Hardliner oder Reformisten, eure Zeit ist vorbei. Das richtet sich gegen das komplette System.

Sind Sie erfreut über die heftigen Proteste? Kaum ein Intellektueller im Iran scheint ja darüber zu jubeln, dass das System jetzt in Bedrängnis geraten könnte.
Man schaut mit großer Sorge auf die Situation, denn der Iran liegt in einer instabilen Region. Man hat Angst in dieser Nachbarschaft, neben Syrien, Irak, Afghanistan, jetzt auch mit der Situation in der Türkei. Wir haben letztes Jahr erlebt, wie schnell demokratische Werte abgebaut werden können. In dieser Region der Welt ist man besorgt, dass alles in Chaos versinken könnte. Zugleich ist die jetzige Situation nicht haltbar. Es muss sich ein Weg der Veränderung öffnen.

Das Gespräch führte Werner Bloch.

Werner Bloch

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