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Kanu im Schlingerkurs: Szene aus "Kanata"

© Theatre du Soleil/Michele Laurent

Umstrittenes Theaterstück "Kanata": Kulturelle Aneignung - oder gutes Bild der indigenen Kultur?

Ureinwohner im Konflikt mit dem Kulturbetrieb: Robert Lepages „Kanata“ läuft in Paris - nachdem das Stück in Kanada auf Widerstand stieß.

Der Fall ist exemplarisch und geht weit über das Theater hinaus. Im Sommer erwirkten Nachfahren der indigenen Bevölkerung Kanadas das vorläufige Aus für Robert Lepages „Kanata“. Monate vor der geplanten Premiere gab es vehemente Proteste und eine Resolution von Künstlern. „Cultural Appropriation“ wurde dem Frankokanadier vorgeworfen, da er vorhatte, über die Geschichte Kanadas und der indigenen Bevölkerung zu sprechen, ohne diese in den Entstehungs- und Probenprozess einbezogen zu haben.

Die New Yorker Co-Produzenten zogen sich daraufhin aus dem Projekt zurück. Ein Fall von identitätspolitisch motivierter Zensur? „Kanata“ war indessen nie als kanadische Produktion geplant: Zwei Welttheatergranden, Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil und Gastregisseur Lepage, wollten das theatrale Großunternehmen stemmen. Mnouchkine stellte Robert Lepage hierfür ihr Ensemble zur Verfügung. Eine veränderte Gastspielplanung machte das Projekt nun doch noch möglich. „Kanata“ heißt jetzt im Untertitel „Épisode I – La Controverse“ und ist nur der erste von drei geplanten Teilen.

Die Aufführung zeigt nun, dass sich auf dem Theater die öffentliche Debatte nicht eins zu eins fortsetzen lässt. Und doch führt der Beginn der Aufführung ins Herz des Konfliktes: Ein Ausstellungsmacher streift zusammen mit einer Konservatorin durch die Bestände eines Museums in Ottawa. Er möchte ein Bild von Joseph Légaré zeigen, einem Maler des 19. Jahrhunderts. Der hatte 1840 die Häuptlingstochter Josephte Ourne porträtiert, ein Mitglied der kanadischen Urbevölkerung, der Native Americans oder Premières Nations, wie sie in Québec auch genannt werden.

Wer darf wen porträtieren? Wer von wem erzählen?

Gute zwei Stunden später kommt in Lepages Stück ein ganz ähnliches Porträt in den Blick, das die Malerin Miranda von der heroinabhängigen, sich prostituierenden Tanya gemacht hat, die einer indigenen Minderheit entstammt. Das Bild trägt ihr den Vorwurf ein, sie habe der autochthonen Bevölkerung nun auch noch die Tränen der Trauer genommen. Miranda hatte sich für eine Porträtserie voller Mitgefühl auf eine marginalisierte Gruppe von Drogenabhängigen auf der Hasting Street in Vancouver gestürzt, Hotspot der Gestrandeten, von denen viele Native Americans sind. Lepages emblematische Szene vom Anfang und die dramatische Konfliktszene vom Ende konvergieren in einer Frage: Wer darf wen porträtieren? Wer von wem erzählen?

Um solche Fragen zu behandeln, hat Lepage eine griffige Handlung erfunden: Die Franzosen Miranda und Ferdinand wollen in Vancouver ein neues Leben anfangen, er als Schauspieler, sie als Malerin. In diesem Setting sind zahlreiche Begegnungen möglich: mit der geschäftstüchtigen Chinesin, die ihnen ein teures Loft vermietet, mit einer engagierten schwarzen Sozialarbeiterin, die dafür sorgt, dass die zahlreichen Heroinsüchtigen wenigstens mit sauberen Spritzen versorgt werden, mit Polizisten, die eine Mordserie aufzuklären haben.

Zahlreiche junge Frauen aus der Szene sind ermordet worden, bislang allesamt Autochthone. Ihr Drogenschicksal, so erklärt dieses Theater, sei eine Folge der Tatsache, dass man sie ihren Familien entrissen und in Pensionaten aufgezogen habe, in kultureller und emotionaler Entwurzelung. Durchaus emblematisch zeigt die Aufführung dies, wenn zwei Soldaten einer schreienden Mutter ihren Säugling entreißen. Lepage ist eindeutig: Er verurteilt die von Missbrauch geprägte Umerziehungspraxis der christlichen Kirchen, die bis 1996 angedauert hatte. Brutal auch, wenn Waldarbeiter mit knatternden Kettensägen Bäume und Totems fällen, um für die moderne Welt, will sagen Vancouver, Platz zu schaffen. Hier wird indigene Geschichte mit zeitgenössischem Werkzeug beseitigt. Auch von der chinesischen Masseneinwanderung nach den Opiumkriegen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wird erzählt.

Scheitern beim Versuch der kulturellen Assimilation

Lepage will viel: Vancouvers Geschichte in exemplarischen Schicksalen erzählen, eine multiperspektivische Geschichte einer multikulturellen Gesellschaft, glaubwürdig verkörpert von Mnouchkines postmigrantischem Ensemble: in einer schnellen Szenenfolge, der Lepages poetischer Illusionismus immer eine leichte, luftige Traumnote verleiht. Nur eine Figur ist einem hyperrealistischen Horrorthriller entlehnt: Tanyas Mörder ist ein schmieriger, aber reicher weißer Schweinebauer, eine Ausgeburt perverser Bösewichtigkeit. Steht er für die weiße Killerkultur, ist er der Genozid in Person?

In „Kanata“ – das Wort heißt „Dorf“ in der Sprache der Huronen – gibt es aber auch ein schnelles Scheitern beim Versuch der kulturellen Assimilation. Ferdinand scheitert als Schauspieler mit seinen Plänen in Vancouver. Er bekommt den breiten amerikanischen Akzent nicht hin. Nach der Trennung setzt Miranda ihre Kulturreise ins Herz der fremden Kultur mit einem jungen Mann fort, einem Nachfahren der Huronen, der das Elend der indigenen Bevölkerung seinerseits mit der Filmkamera dokumentiert.

Miranda ist Trägerin einer lehrstückhaften Botschaft: Wer sich einer fremden Kultur mit Empathie und Engagement annähert, wer sich in sie emotional vertieft, wer sich fundiert ein Bild macht, der darf als Künstler auch ein Bildnis anfertigen, dem kulturelle Aneignung nicht vorgeworfen werden kann. Die Aufführung macht aber noch etwas anderes deutlich: Das Theater ist nicht der Ort, der gesellschaftliche Ausgrenzung beseitigen kann.

Eberhard Spreng

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