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Existenzielle Erfahrung. In Draesners Roman will ein Mann den Ärmelkanal überqueren.

© Wolfgang Runge/dpa

Ulrike Draesners Roman „Kanalschwimmer“: Der alte Mann im Meer

Sprache und Schweigen: In Ulrike Draesners poetischen Roman „Kanalschwimmer“ findet ein Mann durch extreme Anstrengung zur Wahrheit.

Für eine Midlife-Crisis ist dieser Charles eindeutig zu spät dran. Mit seinen 62 Jahren sollte er das Gröbste hinter sich haben. Aber ihm kommt doch noch einmal die Vergangenheit in die Quere. Genauer gesagt: eine verwickelte, geheimnisvolle Liebesgeschichte aus den 70er Jahren. Charles’ Frau Maude jedenfalls trifft nach vielen Ehejahren, einem Leben in Deutschland und einem Umzug in die alte Heimat England Silas wieder – Charles’ früheren Freund und Liebeskonkurrenten. Und plötzlich ist die eingespielte Zweisamkeit in Gefahr. Der nüchterne Wissenschaftler Charles weiß nicht recht, wie er mit der emotionalen Situation umgehen soll, was es mit dieser neuen Konstellation auf sich hat – und ob Maude tatsächlich von ihm verlangt, nun eine Beziehung zu dritt zu führen. Er reagiert darauf, wie es Männer gerne tun: mit einem Rückzug und einer Art Mutprobe, die ihm Antworten liefern soll, deren Fragen er noch nicht einmal genau zu formulieren weiß.

Das ist der Hintergrund von Ulrike Draesners neuem Roman „Kanalschwimmer“, eigentlich eine Novelle. Im Mittelpunkt steht eine unerhörte Begebenheit, motiviert von einer noch unerhörteren, die 40 Jahre zurückliegt: einer Liebeslüge, die aber unter mehreren Vergangenheitsschichten verborgen ist und erst langsam an die Oberfläche treibt. Die Lyrikerin, Essayistin, Erzählerin und Übersetzerin Ulrike Draesner hat 2017 in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen über diesen Stoff gesprochen – und über die vielen Jahre, die es brauchte, bis er zu einer Geschichte fand. „Endlich wusste ich“, schrieb sie in ihrer Vorlesung, „Charles und Erinnerung, Sprache und Wasser würden gleichermaßen die Akteure dieser Novelle sein. Akteure sind Energiefelder. Das Wichtigste dieser Felder in Charles’ Fall: Die Grenze zwischen Sprache und Schweigen.“

Tatsächlich lässt Draesner ihren Charles ins Wasser gehen: Ein Jahr lang, sich ausgestoßen fühlend aus seinem bisherigen Leben, bereitet er sich auf die Überquerung des Ärmelkanals vor. Er härtet sich ab, wappnet sich mit eisernem Training gegen die Temperaturen und die Angst. Der alte Mann im Meer – das ist der Versuch, eine andere, innere Sprache zu erkunden, die zu Erkenntnis führt. Den extremen Bedingungen ausgesetzt, würden Selbsttäuschungen von ihm abfallen, so die Hoffnung.

An Land kriechen wie ein erster Mensch

Das Ich, und hier beginnt das Interesse Draesners für ihre Figur, wird brüchig. Erst in dieser Brüchigkeit zeigt sich, welche Substanz sie hat, wie sich die Anstrengung auf Denken und Erinnerung ausübt. Es ist eine existenzielle Erfahrung. Und dass Charles in einer der ersten Szenen des Buches im Naturkundemuseum von Oxford die Überbleibsel von Walen, Sauriern, vorsintflutlichen Lebewesen betrachtet, ist kein Zufall. Es weist auf die Relativität vergehender Zeit – und auf sein Vorhaben: durch die Kälte des Meers zu schwimmen, Reptil zu werden, in Frankreich an Land zu kriechen wie ein erster Mensch. Jene Meerenge zwischen England und Frankreich als Geburtskanal – eine aus dem Ärmel geschüttelte Wiedergeburt.

[Ulrike Draesner: Kanalschwimmer. Roman. Mare Verlag, Hamburg 2019. 176 Seiten, 20 €.]

Draesner beobachtet einen Mann an der Grenze

Ulrike Draesner ist eine Sprachartistin. Sie beobachtet einen Mann an der Grenze, ausgesetzt den Naturgewalten, immer mehr in seinem Unbewussten schwimmend, stetig im Visier seines „Piloten“, eines alten Schiffers. Es ist ein Eintauchen in das Verborgene des eigenen Ich, eine Irrfahrt durch das Leben, dem die Zukunft vage geworden ist, eine Suche nach Wahrheit durch absolute Verausgabung. Nur so scheint sich für Charles ein Weg aufzutun.

Draesner beschreibt diesen Kampf in kurzen, manchmal unvollständigen Sätzen. Etwas Getriebenes liegt darin und zugleich eine beeindruckende Poesie der Erschöpfung, ein Hin- und Hergleiten zwischen bedrohlicher Erinnerung und Gegenwartsgefahr, zwischen dem Willen zur Selbstüberwindung und tranceartigem Abtauchen, zwischen Ende und Neuanfang. Ihr Held, dem sie in seiner Widersprüchlichkeit nahe rückt, wird zu einem Odysseus, der einen Weg zurück sucht. Die immer wieder eingestreuten Naturschilderungen sind lyrisch und licht, herb und genau. Ulrike Draesner dringt in ihrer fein konstruierten, sprachlich subtilen Novelle tief in die Beschaffenheit der Welt und die Seele von Charles vor. Und sie führt ihren Helden zu einer Art Katharsis, die ihm einen Blick ans nicht so ferne Ufer gewährt – in die Freiheit.

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