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Die Höhle des Bösen. Die Mafiabosse Sokolov (Georgii Povolotskyi, li.) und Mischa (Misel Maticevic) im Restaurant „Odessa“.

© dpa

TV-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“: Russenmafia in Berlin: Weiß wie Koks, rot wie Blut

In Dominik Grafs meisterhafter TV-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ steht Russenmafia gegen Polizeirivalitäten, ukrainische Mädchen, die in Berlin zur Prostitution gezwungen werden, gegen deutsche Unternehmer, die mit schmutzigen Geschäften ihr Lotterleben vergolden.

Die Wand im LKA, an der sie die Gesuchten anpinnen, ist groß, die Zettel, Fotos, Tatorte sind unüberschaubar. Und die Verbindungspfeile, die zwischen den Gruppen hin- und hergehen, sind weiß wie Kokain, silbern wie Geld, schwarz wie Kaviar und klebrig und süß wie vergossener Champagner. Vor allem aber sind sie rot. Rot wie Blut. Und rot wie die Liebe.

Die Wand, an der Regisseur Dominik Graf den Plot seiner Fernsehserie „Im Angesicht des Verbrechens“ entworfen hat, muss man sich wohl noch um einiges größer vorstellen. 160 Sprechrollen, vom Heer der Komparsen, der Vielzahl der Drehorte zwischen der Ukraine und Weißrussland, Polen und Deutschland gar nicht erst zu sprechen. Russenmafia steht gegen Polizeirivalitäten, ukrainische Mädchen, die in Berlin zur Prostitution gezwungen werden, gegen deutsche Unternehmer, die mit schmutzigen Geschäften ihr Lotterleben vergolden, und am Ende geht es immer um Familien. Bandenfamilien. Familienbande.

Diesen Familien folgen Graf und sein Drehbuchautor Rolf Basedow zehn Folgen lang. Ziehen immer wieder eine Figur hervor, schweifen scheinbar mühelos zur nächsten, verweilen gern auch mal bei einer Nebenfigur. Jeder bekommt sein Leben, seine Liebe, sein Recht: der Kleinkriminelle Nikolai, der sich in eine Kellnerin verliebt und sich aus dem Gefängnis eine Liebesnacht und die Verlobung ertrotzt. Der Bandenchef Joska, der es nicht verwinden kann, dass seine Bande durch Verrat hochgenommen wurde und der einen Kohlhaas’schen Vergeltungsfeldzug startet. Oder die Ukrainerinnen Jelena und Swetlana, die sich mit dem Versprechen auf das schnelle Glück nach Berlin locken lassen.

Immer wieder geht es um Loyalitätskonflikte, um Zerrissenheit zwischen zwei Familien, zwischen zwei Welten. Da wäre: die Dienstfamilie der Bereitschaftspolizisten vom Abschnitt Charlottenburg, zusammengespannt auf Gedeih und Verderb, in einem mäßig anspruchsvollen Job. Marek Gorsky (Max Riemelt) steht hier, ein Stiller, Blasser, Verschlossener: „Du bist so nett“, sagt eine Freundin. „Nur deine Augen, die sind kalt.“ Marek hat den Polizeidienst gewählt, nachdem sein Bruder als Kleinkrimineller erschossen wurde. In seiner Familie gilt er als Verräter. Und hat dafür einen Ersatzbruder, einen Freund gefunden in Gestalt seines fröhlichen Kollegen Sven (Ronald Zehrfeld), der nichts anbrennen lässt und sich nichts sehnlicher wünscht als einen Karriere-Sprung ins LKA.

Das Problem: Marek gehört auch zur Traditionsfamilie der russisch-jüdischen Einwanderer, wo Polizisten als „Musar“, Müllmann, bezeichnet werden. Hier steht dafür seine Schwester Stella (Marie Bäumer) im Mittelpunkt, bildschön, verwöhnt, verzweifelt. Sie hat einen reichen Russen geheiratet, lebt ein Luxusleben in einer Villa am Halensee, langweilt sich zu Tode als Chefin des Restaurants „Odessa“. Ihr allabendlicher Auftritt im Restaurant, der Kontrollgang zur Küche, der schnelle Griff zum Rotweinglas, das verzweifelte Anspielen gegen das Gefühl, nur dekoratives Einrichtungsobjekt zu sein, ist eine Charakterstudie in sich.

Im „Odessa“ trifft sich die Mafiafamilie, der Stellas Mann Mischa angehört und in der ähnliche Loyalitäten und Abhängigkeiten gelten wie in der Blutsfamilie. Da werden Familienmitglieder nicht geopfert und verraten, und wenn doch, bricht Krieg aus. Misel Maticevic ist, nach „Hotte im Paradies“ und „Das Gelübde“, als Mischa die heimliche, tragische Hauptfigur des Films: ein schwarzer Engel, ein eiskalter Geschäftsmann und doch einer, der Gerechtigkeit will. Und Liebe, die Liebe seiner entfremdeten Frau, die er mit Perlenketten, mit einem Hubschrauber voller Rosenblätter beschenkt, nur um die Kälte zu überspielen.

Eine Zumutung, eine Wucht - Grafs Serie macht süchtig

Liebe, Hass, Leidenschaft: Dominik Graf scheut nicht vor den großen Gefühlen zurück, auch nicht vor drastischer Brutalität und überwältigenden Bildern. „Im Angesicht des Verbrechens“, das Mammutwerk, das auf der Berlinale seine Uraufführung erlebte, ist ein Fernsehgroßereignis, das sich grundsätzlich unterscheidet von TV-Spektakeln, die mit Riesenaufwand auf Überwältigung zählen. Graf setzt auf die Geduld, die Intelligenz der Zuschauer, mutet ihnen lange untertitelte Dialoge auf Russisch, Ukrainisch, Rumänisch zu, unbekannte, großartige Schauspielergesichter und eine unübersehbare, sich immer wieder anders entwickelnde und verwickelnde Handlung.

Das Ergebnis macht süchtig – und bringt den Glauben an ein Fernsehen zurück, das wie Film funktionieren kann, nur detailreicher, epischer, mit langem Atem und Mut zum Detail. Solche Filmepen hat Fassbinder fürs Fernsehen gedreht, oder Edgar Reitz, und ein Dank gilt den Redakteuren von WDR und BR, die noch einmal ein solches unzeitgemäßes Wagnis unternahmen, mit zehn Millionen Euro Produktionskosten, zwei Jahren Produktionszeit und jeder Menge Hindernissen.

Entstanden sind 500 Minuten, von denen kaum eine langweilig, nur wenige hektisch und ganz, ganz wenige zu überdeutlich oder zu banal geraten sind. Viele vergisst man nicht: ein weißes Pferd auf einer Wiese, auf dem nicht der Ritter, sondern der Verführer einreitet, eine Nixe, die durch einen Badesee schwimmt, umflossen von blondem Haar. Aber auch: Prostituierte, die nackt an einem ukrainischen See Tontaubenschießen veranstalten, eine Großmutter, die einem Kranken eine Schnellkur per Wodkaeinreibung verpasst, aber auch Polizisten bei endlosen Lagebesprechungen und Verhören, und der Ablauf einer Zigarettenfabrik, mit Zigaretten, die wie in einem Ballett durch die Produktionsmaschinen purzeln.

Vor allem aber immer wieder: Stadtansichten. „Im Angesicht des Verbrechens“ ist eine Hommage an Berlin, an seine schmutzigen, abseitigen Ecken, an die Parallelgesellschaften in der vertrauten Lebenswelt und an die glitzernde Schönheit der Stadt. Berlin für Dominik Graf, das ist das ganz große Panorama von ICC bis Alexanderplatz, vom Kaiserdamm bis zur Frankfurter Allee. Das ist das Kopfsteinpflaster der Fidicinstraße und der schäbige Blockeingang in Lichtenberg, die Wohnanlage Schlangenbader Straße, aber auch der Panoramablick aus den Leipziger-Straße-Hochhäusern, es sind die protzigen Villen in Grunewald und Halensee, es sind das „Bacco“ mit seinem Grotto-Interieur, die heißen Nächte in der Russendisko, das schmierige Strip-Lokal „King George“ und natürlich das elegante Russenrestaurant „Odessa“, in dem alle Fäden zusammenlaufen.

Über allem ist es fast immer Nacht, blaue, kühle Nacht, in der die Reklameleuchten der Bars warm und rot blitzen, wenn man im Auto vorbeifährt, und die Regentropfen auf der Scheibe vervielfältigen das Licht. Kaleidoskopbilder einer Großstadt, eine wunderbare Bühne und eine Bestandaufnahme. Dominik Graf hat einmal erzählt, wie oft er später seine Drehorte nicht mehr wiederfinde, weil sich die Stadt verändert hat. Nicht unwahrscheinlich, dass sich auf den Spuren von „Im Angesicht des Verbrechens“ bald ein eigener Stadt- und Locationtourismus entwickeln könnte.

Zehn Folgen. Ab heute bis 11.5., immer Di und Sa bei Arte, 22 Uhr (je zwei Folgen)

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