zum Hauptinhalt
Analytiker türkischer Paranoia. Regisseur Emin Alper in Berlin.

© Mike Wolff

Türkischer Filmemacher Emin Alper: „Die Patriarchen wollen ihre Macht behalten“

Seine Filme erzählen von der Auflösung familiärer Strukturen in der Türkei. Dafür ist Emin Alper mit dem Großen Kunstpreis Berlins ausgezeichnet worden. Eine Begegnung.

Für den Dokumentarfilmer Andres Veiel ist er ein „großer Cineast, der mit einer bildhaften, allegorischen Erzählweise den Zustand seines Landes beschreibt.“ Dennoch will Veiel den Großen Kunstpreis Berlin, mit dem der türkische Filmemacher Emin Alper am Samstag in der Akademie der Künste ausgezeichnet wurde, nicht rein politisch verstanden wissen. Der 1974 geborene Regisseur, dessen Werk zwei Kurz- und zwei Spielfilme umfasst, erklärte Veiel in seiner Laudatio, sei etwas ganz Besonderes gelungen: „Alper hat eine überzeugende Narration gefunden für die Wechselwirkung zwischen dem tief verunsicherten Einzelnen und einem Staatssystem, dass das Misstrauen instrumentalisiert.“

Emin Alper stammt aus der Gegend von Konya in der anatolischen Provinz. Sein erster Spielfilm „Beyond the Hill" (2012) ist ein Drama, in dem drei Generationen von Männern gegen einen unsichtbaren Feind, die sogenannten Nomaden, zu Felde ziehen. Die gewaltige Kulisse Anatoliens bildet den Hintergrund familiärer Konflikte. Alper kennt Sprache und Verhaltenscodes der Provinz genau. Er weiß, was es heißt, eine Figur wie den alten Patriarchen Faik zu entwickeln.

Alpers zweiter Spielfilm „Frenzy“ dagegen spielt am Rand einer Großstadt. Er erzählt von dem nach 20-jähriger Haft entlassenen Kadir, der als Polizeispitzel in ein Arme-Leute-Viertel geschickt wird. Als Müllsammler soll er nach Materialien suchen, die für den Bombenbau benutzt werden und Rückschlüsse auf Terroristen zulassen. Kadir nimmt Kontakt mit seinem jüngeren Bruder auf, der jedoch nichts von ihm wissen will, sich verfolgt glaubt und immer weiter in die Paranoia abgleitet.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

In beiden Fällen erzählt Emin Alper von der Auflösung familiärer Strukturen. „Die Familie ist eine gute Metapher“, sagt er. „Ich glaube, in der Türkei sind wir keine richtige Gesellschaft. Wir vereinen uns entweder gegen einen imaginären Feind wie in ,Beyond the Hill’. Oder wir sind paranoid und misstrauisch wie in ,Frenzy’.“ Seit er denken könne, habe sich das nicht geändert. „In den 1990er Jahren, als ich aufs Gymnasium ging und studierte, war die türkisch-kurdische Beziehung so problematisch wie nie zuvor. Ich habe die türkische Gesellschaft immer als konfliktreich wahrgenommen. Ich bin mit den Geschichten aus den 1970ern aufgewachsen, als es eine Art Bürgerkrieg zwischen militanten Linken und Rechten gab, der in den Militärputsch von 1980 mündete. Dann gab es einen kriegsähnlichen Kampf zwischen kurdischen Milizen und dem Staat.“

Damals sei ihm klar geworden, dass die türkische Gesellschaft sich nicht mit der Realität auseinandersetzen wolle. Es gebe einen offiziellen Diskurs, der die Schuld stets bei den anderen, den ausländischen Mächten, den Imperialisten, sucht. Diese Sichtweise, sagt er, geht zurück auf die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als die Siegermächte das einstmals mächtige Osmanische Reich unter sich aufteilen wollten. „Die politische Elite und große Teile des Volkes denken immer noch, dass die Nation damals glücklich und einig war, bis die Fremden kamen. Das hat mich zu meinem ersten Film inspiriert, in dem die Nomaden als Quelle allen Übels gelten.“

Die Männer in seinen Filmen sind verunsicherte Patriarchen

Frauen kommen in Alpers Filmen nur am Rande vor. Auf dem Bauernhof in „Beyond the Hill“ gibt es die Gattin des Verwalters, die für Mensch und Tier sorgt, Trost spendet und sich gegen sexuelle Belästigungen wehren muss. Und in „Frenzy“ spielt die Nachbarin des Protagonisten eine ähnliche Rolle. Beide Figuren haben aus gutem Grund eher die Wirkung von Katalysatoren. Denn Alper beschäftigt das krisenhafte männliche Selbstverständnis: „Die Welt ändert sich, aber die Patriarchen wollen ihre Macht nicht verlieren. Sie sind immer noch stolz darauf, Männer zu sein. Der alte Faik sagt zu seinem Enkel: ‚Sei ein Mann!’ Das bezeichnet doch schon die Krise! Oder wenn in ‚Beyond the Hill’ der schwache Sohn des Gutsherrn die Haushälterin Meryem belästigt, weil er sie als noch schwächer wahrnimmt."

Die Männer in Emin Alpers Filmen wissen nicht, wie sie sich Frauen gegenüber verhalten sollen. Sie schwanken zwischen Scheu und Ignoranz, sind extrem angespannt in ihrer Nähe und suchen sie doch. „Männer in konservativen Ländern, besonders in solchen mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung, haben erhebliche Schwierigkeiten im Kontakt mit Frauen“, glaubt Alper. „Sie wissen nicht, wie man sich in ihrer Gegenwart benimmt, und sie sind besessen von ihnen, vom Sex. Frauen und Männer hatten dort lange kaum eine gemeinsame Sphäre. Das änderte sich zwar mit der Modernisierung und Säkularisierung, aber besonders auf dem Land und in den unteren Schichten ist das noch ein Problem. Weil Mädchen und Jungen von Anfang an getrennt aufwachsen, kennen sie nicht die Mittel zur Kontaktaufnahme. Die erste wirkliche Konfrontation mit dem anderen Geschlecht ist die Heirat."

Angesichts der eleganten, weitgereisten, vielsprachigen Metropolenbewohner von Istanbul, Ankara oder Izmir ahnt man davon nur wenig. Das Leben dort scheint mit dem in den Vorstädten, wo die Landflüchtigen sich ansiedeln, nichts zu tun zu haben.

Sein Film „Frenzy“ profitierte vom Filmförderungsprogramm

„Frenzy“ spielt in einem Armenviertel, wie er es selbst aus Studentenzeiten kennt. Einer seiner Protagonisten arbeitet als Hundefänger in einem kleinen Team, das streunende Hunde aufspürt, erschießt und beseitigt. Was bedeuten Alper die Hunde? „Man will die Stadt von Terroristen säubern. Und das Massengrab der Hunde erinnert natürlich an ethnische Säuberungen, an Genozide, an Massenerschießungen. Vor ein paar Tagen habe ich eine Masterarbeit über Tiere im türkischen Film gelesen. Die Verfasserin behauptet, dass Hunde immer für das Andere stehen, sie repräsentieren die Ausgegrenzten, die Unerwünschten."

Emin Alper hat einen Master in neuer türkischer Geschichte, dann eine Dissertation geschrieben und eine Forschungsstelle an der Technischen Universität in Istanbul angenommen, obwohl er immer schon Filme inszenieren wollte. In den 1990er Jahren ließ sich der Wunsch danach schlicht nicht finanzieren. Erst ab den 2000er Jahren etablierte das Kultusministerium ein Filmförderungsprogramm, von dem auch er 2014 mit „Frenzy“ profitiert hat.

„Da war die Situation etwas besser als jetzt“, sagt Alper. „Ein Friedensprozess mit der PKK war im Gange, meine Bürgerkriegsszenarien berührten gerade nicht die politische Lage. Und das Komitee, das über die Filmförderung entscheidet, ist relativ autonom, nur einige Mitglieder gehören dem Ministerium an.“ Von solchen Gelegenheiten kann heute keine Rede mehr sein.

Zur Startseite