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Wüstes Land. Blick über die Ruinen des Nikolai-Viertels in Berlins Mitte mit der zerstörten Nikolaikirche im Vordergrund (1945).

© Berliner Verlag dpa/lbn

Traumaforschung: Der Krieg nach dem Krieg

Die Historikerin Miriam Gebhardt untersucht die Folgen der Massenvergewaltigungen nach 1945.

Von Caroline Fetscher

Anna K. war zwölf Jahre alt, als sie Ende April 1945 in Ostpreußen in einen Keller gezogen und vergewaltigt wurde. Die Täter waren Soldaten der Roten Armee. Bald darauf starben ihre Eltern und alle vier jüngeren Geschwister an Unterernährung. Getarnt als Junge schloss Anna K. sich einer Jugendbande an, kam nach Deutschland, fand Arbeit als Haushaltshilfe, rannte von dort fort und landete im Heim. Vor der Entlassung verfasste sie einen Lebenslauf, in dem sie ihren Wunsch, mit Kindern zu arbeiten bekundet. Er endet mit der Zeile: „Leider konnte ich nicht ausführlicher schreiben, da das Zurückdenken an die Vergangenheit zu furchtbar für mich ist.“ Was das Wort „verheerend" bedeutet, machen solche Berichte überdeutlich.

Erschütternde Erzählungen wie die von Anna K. zitiert die Historikerin Miriam Gebhardt in ihrer erneuten Spurensuche nach einem weithin verdrängten Aspekt der Nachkriegsgeschichte. (Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden. DVA, 2019, 304 Seiten, 24 €) Für ihr viel diskutiertes Buch „Als die Soldaten kamen“ (2015) hatte Gebhardt sexualisierte Gewalt durch alliierte Besatzungssoldaten nach 1945 erforscht. Nach ihrer Schätzung kam es zu mehr als 800 000 Vergewaltigungen, nicht nur, wie der Alltagsmythos lautet, durch Rotarmisten.

Dröhnend hatte Goebbels in seinen Durchhalteparolen gewarnt, nach einer Niederlage würde die Rote Armee über die „deutschen Frauen“ herfallen, und schon Angst geschürt, ehe „die Russen kamen“. Doch Gebhardt zählt auch rund 170 000 amerikanische Besatzungssoldaten sowie Franzosen und Briten zu den Tätern. Statistisch kommt auf hundert Vergewaltigungen eine Schwangerschaft. Rechnet man die Anzahl der „Besatzungskinder“ hoch, so die Überlegung, ergebe sich in etwa diese Größe.

Schuld und Dankesschuld

Auf ihr erstes Buch zum Thema erhielt die Autorin eine Vielzahl von Briefen, viele auch von Töchtern und Söhnen Betroffener. Sie leiden darunter, durch eine solche Tat gezeugt worden oder mit psychisch belasteten Müttern groß geworden zu sein. Der Krieg nach dem Krieg, der seelische nach dem militärischen, reicht auch im Land der Täter noch in die nächsten Generationen.

Miriam Gebhardt besuchte Absenderinnen und Absender, hörte zu, schrieb die Fallgeschichten auf und ließ sie gegenlesen. Sie ordnet sie unter anderem mit Thesen der Traumaforschung ein, etwa von Luise Reddemann, Werner Bohleber und Dan Bar-On. Der engagierten Historikerin geht es nirgends um die Relativierung der NS-Verbrechen, sondern um die notwendige Anerkennung für jene Gruppe, die weder in der BRD noch in der DDR von Gesellschaft und Familien Hilfe erhielten.

„Loyalitäts- und Dankesschuld gegenüber den Alliierten“ habe der Aufklärung im Weg gestanden, lautet Gebhardts Befund. Und auch deutsche Kriegsheimkehrer vergingen sich hunderttausendfach sexuell an Kindern und Frauen. Die „Kriegsniederlage war sexuell aufgeladen“, formuliert es Gebhardt, und hinzu kam die „frauenfeindliche Schamkultur der Nachkriegsjahre“. Erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar, Gegenstimmen kamen damals im Bundestag unter anderem von Volker Kauder, Horst Seehofer und Friedrich Merz.

Oft dienten den gewaltbetroffenen Familien Kälte und Schweigen als Betäubungsmittel und Wutausbrüche als Blitzableiter. Kinder lebten unter bedrohlicher Spannung, fühlten sich schuldig, ungeliebt und alleingelassen. Einige entwickelten Symptome, als seien sie die Opfer gewesen, als hätten die Mütter ihre Seelenfracht dem Kind aufgebürdet, um selber im Alltag funktionieren zu können.

Parallel existierte bei Frauen auch die Verlockung, mit den Siegern anzubandeln. Sexualität, so die Forscherin, war auch „das Tor zu einer aufregenden, anderen Welt, für die coole GIs, lässige Briten und Franzosen oder antifaschistische Helden der Roten Armee standen“. Tatsächlich gab es Flirts, entstanden Liebschaften und Ehen Alliierter mit den sprichwörtlichen deutschen Fräuleins. Solche glücklichen Paare aber blieben eine Seltenheit.

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