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Szene aus "Birth of a Nation".

© TIFF

Toronto Filmfestival: Die kommenden Aufstände

Rebellische Sklaven, junge Dealer und ein unterschätzter Präsident: Beim Filmfest Toronto standen politische Werke im Zentrum. Nate Parkers "Birth of a Nation" wurde trotz des Skandals um den Regisseur gefeiert.

Das Toronto Filmfestival und die Berlinale haben viel gemeinsam: die gute Organisation, die urbane Anbindung, das umfangreiche Programm. Vor allem aber verstehen sich beide Festivals nicht nur als reines Branchen-Event, sondern auch als Publikumsveranstaltung. Anders als in Cannes und Venedig werden hier die Kinosäle nicht vorwiegend mit Journalisten, Produzenten, Käufern und Filmverleihern gefüllt, sondern für ein breites Publikum geöffnet.

Um den ganzen Häuserblock geht vor einer Filmpremiere in der „Roy Thompson Hall“ die Schlange der Wartenden, die sich mit erstaunlicher Geduld und guter Laune gegenseitig ins Gespräch verwickeln, über Filme, Gott und die Welt diskutieren. Die Multi-Kulti-Metropole am Lake Ontario ist bekannt für ihre Offenheit. Das Zusammenleben von Migranten aus allen Teilen der Welt über mehrere Generationen hinweg bestimmt das Bild und den Geist der Stadt. Jeden „besorgten Bürger“ aus der deutschen Provinz möchte man zwecks Horizonterweiterung zu einem Besuch Torontos verpflichten.

Standing Ovations für "Birth of a Nation"

Auch die Filmindustrie weiß den Geist von Stadt und Festival zu schätzen. Dennoch müssen die Verantwortlichen von Fox Searchlight der Vorführung von Nate Parkers „The Birth of a Nation“ mit großer Nervosität entgegengesehen haben. Für eine Rekordsumme von 17,5 Millionen Dollar hatten sie den Film nach seiner euphorischen Premiere in Sundance gekauft. Das Drama über einen Sklaven-Aufstand in Virginia wurde als idealer Oscar-Anwärter gehandelt, bis den Regisseur die Anklage in einem Vergewaltigungsprozess aus dem Jahre 1999 einholte. Seit einigen Wochen tobt nun in den US-Medien eine Diskussion, in der es keine einfache, politisch korrekte Positionierung zu geben scheint.

Protest blieb bei der Vorführung des Films im altehrwürdig Winter Garden Theatre jedoch aus. Und als Nate Parker samt Ensemble anschließend die Bühne betritt, sind keine Pfiffe zu hören, sondern zweiminütige, fast schon trotzige stehende Ovationen. Weniger sanft gestimmt ist die Journalisten-Schar am Tag darauf in der sorgfältig moderierten Pressekonferenz. Aber alle Versuche, Parker ein Statement abzuringen, bleiben ohne nennenswertes Ergebnis. Es sei ja nicht nur sein Film, betont der Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Hauptdarsteller allzu geschmeidig und verweist auf die Arbeit seines 400-köpfigen Teams.

Filmische Aufarbeitung der Sklaverei mit zornigem Gestus

Ob die Trennung von Autor und Werk als PR-Strategie der Schadensbegrenzung in der Oscar-Rallye ausreicht, darf bezweifelt werden. Aber eines steht nach Sichtung des Films genauso fest: Es wäre eine Schande, wenn „The Birth of a Nation“ sein Publikum nicht finden würde. Auch 150 Jahre nach dem Ende der Sklaverei in den USA, steht deren filmische Aufarbeitung erst am Anfang und Parkers Film könnte hier einen entscheidenden Beitrag leisten.

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Die Geschichte vom tiefgläubigen Laienprediger Nat Turner, der 1831 einen 36 Stunden währenden Aufstand anführte, entwickelt ihre Kraft auf der Leinwand vor allem, weil sie sich der Stigmatisierung der Sklaven als passive Opfer strikt verweigert. Sehr differenziert wird hier auch die Rolle des christlichen Glaubens als Instrument der Befriedung, aber auch als Anleitung zur Befreiung verdeutlicht. Rückhaltlos und mit zornigem, kämpferischen Gestus konfrontiert der Film sein Publikum mit jenem brutalen Teil der amerikanischen Geschichte, dessen fehlende Aufarbeitung sich auch heute noch in anhaltenden Rassenkonflikten niederschlägt.

Festivalprogramm wie ein Statement für Diversität

Wie das Leben eines Afroamerikaners im gegenwärtigen Miami aussieht, zeigt Barry Jenkins’ „Moonlight“, der in drei Lebensphasen das Heranwachsen eines zarten Jungen, der in der Schule ständig verprügelt wird und dessen Mutter drogenabhängig ist, hin zu einem muskelbepackten Dealer mit Goldzahnspange aufzeichnet. Was sich zunächst wie eine stereotype Story liest, wird unter Jenkins’ sensibler Regie zu einer berührenden und differenzierten Studie über Einsamkeit, Männlichkeitskonzepte und unterdrückte Sexualität, die fest im afroamerikanischen Leben verankert ist, aber weit darüber hinaus weist. Viele waren sich sicher, in Jenkins’ zweiter, ungeheuer reifen Regiearbeit einen Oscar-Anwärter gesehen zu haben.

Ein schwarz-weißes Liebespaar steht im Mittelpunkt von "Loving".
Ein schwarz-weißes Liebespaar steht im Mittelpunkt von "Loving".

© TIFF

Traditionell gilt das Festival in Toronto als Startschuss für die Award-Season. Nachdem die Academy vergangenes Jahr im Zuge der „Oscarsowhite“-Kampagne in die Kritik geriet, las sich das diesjährige Festivalprogramm fast schon wie ein Statement für Diversität. Mit Jeff Nichols „Loving“ und Amma Asantes „A United Kingdom“ gab es gleich zwei Filme, die Liebesgeschichten von Paaren mit unterschiedlicher Hautfarbe erzählten. Im Eröffnungsfilm „Die glorreichen Sieben“ führte überdies Denzel Washington seine Multi-Kulti-Bande in den Krieg gegen einen Kapitalistenbösewicht und setzte damit ein kraftvollen Akzent gegen die weiße Vorherrschaft im Westerngenre.

Politisches Festival mit Filmen zu Snowden, Armenien und Linksradikalismus

Rob Reiners „LBJ“ wiederum porträtierte mit Woody Harrelson in der Hauptrolle den US-Präsidenten Lyndon Baynes Johnson, der nach der Ermordung von John F. Kennedy 1963 an die Macht kam. Wie es dazu kam, dass ausgerechnet der als konservativ geltende Johnson nach Kennedys Tod zum engagierten Verfechter der Bürgerechtsgesetze wurde, schlüsselt „LBJ“ mit einem genauen Blick auf das Verhältnis zwischen Realpolitik und Moral auf.

Auffallend politisch präsentierte sich das Festival-Programm in diesem Jahr. Neben Oliver Stones „Snowden“, der in dieser Woche in die deutschen Kinos kommt, feierte in Toronto auch Terry Georges „The Promise“ Weltpremiere, der im epischen Format dem Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges gedenkt und wenig erfolgreich Kinounterhaltung mit weltgeschichtliche Traumabewältigung zu verbinden sucht. Sehr viel überzeugender fielen da die Filme aus, die sich der Aufarbeitung persönlicher Traumata widmeten. In Ewan McGregors Regiedebüt „American Pastoral“ nach dem Roman von Philip Roth begibt sich ein Vater auf die Suche nach seiner Tochter, die in den sechziger Jahren als Linksradikale in den Untergrund abgetaucht ist.

Casey Affleck spielt im Drama „Manchester by the Sea“.
Casey Affleck spielt im Drama „Manchester by the Sea“.

© TIFF

„Una“ von Benedict Andrews erzählt von der Konfrontation zwischen einer jungen Frau und jenem Mann, der sie als Vierzehnjährige missbraucht hat. In „Manchester by the Sea“ von Kenneth Lonergan muss sich der proletarische Protagonist seiner tragischen Vergangenheit stellen, als er nach dem Tod des Bruders die Vormundschaft für dessen Sohn übernehmen soll. Mit genauem Blick für das Working-Class-Milieu, wunderbar präzise formulierten Dialogen und einem umwerfenden Casey Affleck entwickelt sich „Manchester by the Sea“ zu einem herzzerreißenden Drama, das die Emotionen hinter der Sprachlosigkeit seines Helden sukzessive freilegt. Eine Perle des US-Independent-Kinos und einer der besten Filme des Festivals, das ohne Wettbewerb auskommt, weder Palmen, Bären noch Löwen vergibt und dennoch auch im 41.Jahrgang seinen Status als wichtigstes nordamerikanisches Filmfest gefestigt hat.

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